Nur Gutes über den Toten

Wettbewerbsbeitrag von P. Réka, 15 Jahre

Herr Khul war ein komischer alter Mann gewesen. Wir Kinder haben nicht oft mit ihm gesprochen, manchmal brachte er aber mit den verschwundenen Bällen auch Schokolade mit, also mochten wir ihn. Aber je älter wir wurden, desto komischer schien er. Er saß manchmal Stunden lang in seinem Garten, mit einem Bild in der Hand, welches er nie zur Seite legte.
„Mama, was ist auf dem Bild?“ fragte Rowan, der mittlere, der die dunkelroten Haare von Mutter, und die etwas dunklere Haut Vaters mit den grauen Augen von Großmutter geerbt hatte, und so die Aufmerksamkeit immer auf sich zog.
„Ich weiß es nicht, Liebling.“ Mutter sah den Kleinen mit einem Lächeln an „Es muss ihm aber wirklich wichtig sein.“
Also haben wir es in unsere eigenen Hände genommen herauszufinden, was auf dem Bild war. Der Plan war einfach: Alani, der Älteste (der nervig gut aussah, schon mit vierzehn – die Pubertät schien ihm nichts auszumachen – mit den dunkelbraunen Haaren, der hellen Haut von Mutter und den tiefen, schwarzen Augen von Vater), musste einen Ball über den Zaun schießen. Damals war Herr Khul schon älter und ließ uns in seinen Garten rübergehen für die Bälle, die Schokolade gab er uns manchmal aber immer noch. Der Ball musste neben dem Herren landen, sonst war der Plan nicht ausführbar, aber zum Glück konnte Alani recht gut schießen, und so konnte er, mit der Kamera auf seinem Kopf befestigt, in den Nachbargarten gehen.
Auf den Aufnahmen konnten wir später feststellen, dass das Bild eines von einer Frau war, vielleicht in ihren 50-er Jahren, mit Blumen in den Haaren, und einem glücklichen Lächeln auf dem Gesicht.
„Wahrscheinlich seine Frau.“ stellte Alani fest, und wir alle nickten.
„Sie ist hübsch.“ piepte ich auf, und Rowan nickte, streichelte mir über den Kopf.
Damals war ich 6, und hatte gerade mit der Schule angefangen, war aber schon in der dritten Klasse als Herr Khul eines Tages nicht mehr im Garten auftauchte. Alani war schon 16, und ging gerade mit seiner dritten Freundin aus, hatte keine Zeit mehr sich um den komischen Nachbarn zu kümmern.
Also setzten wir uns zu zweit auf die Terrasse, Rowan und ich – und Blib, unser Hund, der schon etwas alt war, und nicht mehr viel hörte, aber wir liebten ihn wirklich, es war ein riesiger Verlust als er zwei Jahre später starb.
Rowan und ich haben uns einen neuen Plan ausgedacht, und machten uns auch sofort an die Ausführung. Wir malten zusammen ein Bild – Rowan konnte schon damals wirklich gut malen, obwohl er erst 12 Jahre alt war (wurde später auch Künstler), deshalb machte er das meiste, ich saß nur neben ihm und redete, etwas besorgt, da ich gerade angefangen hatte zu lesen, und mir kam vor, als wäre das der Beginn eines Romanes – so wurde es nicht.
Herr Kuhl öffnete die Tür, lehnte sich mit schwerem Atem an die Wand, und sah uns überrascht an.
„Wir haben ihnen das gemalt.“ sagte Rowan und reichte dem Mann die Zeichnung. „Wir waren wirklich besorgt. Ist alles in Ordnung?“
Herr Khul hatte ein leichtes Fieber gehabt, und der Arzt hatte ihm befohlen sich hinzulegen, weshalb er nicht in den Garten ging.
Wir verabschiedeten uns, und gingen zurück nach Hause, Mutter hatte Pfannkuchen gemacht und wir waren wirklich hungrig.
Ich war 15, als Herr Kuhl starb.
Es war ein Mittwoch, der Tag, an dem ich zu ihm rüberging, um ihm etwas vorzulesen – er bezahlte mich sogar dafür, obwohl ich es auch umsonst gemacht hätte.
Es war ein einfacher Tag, ein richtig guter sogar. Ich und Greg haben gesprochen, und ich hatte das neue Kleid an, welches mir Oma geschenkt hatte. Es war ihres, als sie jünger war, und da ich ihr Ebenbild bin – gerade, fast weiße Haare, viel zu dünne Figur und graue Augen – hatte sie es mir geschenkt.
„Hier, Chloris, damit ich bei dir bin, auch wenn ich schon lange gegangen bin.“
(Oma ist immer noch nicht gestorben, ist gerade im Urlaub, irgendwo in China mit ihrer Freundin. Sie machen eine Welt-Tour.)
Also stand ich mit einem Lächeln vor der Tür und klingelte.
Die Klingel war alt, aber laut, und ich verzog das Gesicht, als meine Ohren wieder starben, und wartete.
Herr Kuhl öffnete die Tür nicht.
Das kam vor, manchmal schlief er, als ich ankam, dann musste ich mit dem Schlüssel unter den gelben Rosen in das Haus kommen und ihn aufwecken, und dies tat ich auch an diesem Tag.
Hätte ich doch nicht.
Die Wohnung stank nach Blut und das machte mich besorgt. Ich verschnellerte meine Schritte und rannte in das Wohnzimmer, wo Herr Kuhl sich immer aufhielt.
Hätte ich doch nicht.
Herr Kuhl war gestorben, und ich habe ich ihn gefunden.
Er saß auf seinem Sofa, die Nachrichten liefen immer noch, und seine Kaffeetasse lag zerbrochen auf dem Boden.
Er hatte einen Anfall.
Hatte Blut gehustet und ist darin erstickt.
Es war kein schöner Anblick.
Ich stand einige Sekunden – vielleicht Minuten – nur da, starrte auf den leblosen Körper, und fühlte, wie die Tränen langsam über meine Wange liefen. Dann rannte ich aus dem Haus.
Zuhause angekommen, brach ich zusammen und an mehr kann ich mich nicht erinnern.
Nur wenige Leute waren auf der Beerdigung. Ich ging hin, obwohl ich eigentlich nicht wollte. Jeder sagte, ich sollte, er hat mich gemocht, aber ich wollte nicht da sein, den Körper nicht noch einmal sehen.
Die Frau auf dem Bild kam zu der Beerdigung. Rowan, der da war, um mich zu begleiten, starrte sie die ganze Zeit an.
„Ich dachte, sie sei tot.“ murmelte er in mein Ohr, und ich nickte, konnte kein Wort rausbringen.
Nach der Beerdigung schloss ich mich wieder in mein Zimmer ein, versuchte das Bild aus meinem Gedächtnis zu löschen.
Es ging nicht.
Manchmal frage ich mich immer noch, wie es wohl war. Für Herrn Khul. Er ist alleine gestorben, niemand war da, um seine Hand zu halten. Vielleicht war er aber froh darüber.
Später in meinem Leben, als ich als Pflegerin im Altenheim arbeitete, habe ich viele Sterbende gesehen – manche klammerten sich an meine Hand, andere aber baten mich aus dem Raum zu gehen, sie wollten allein sein, als es passierte.
Nach der Beerdigung habe ich lange nicht gewusst, was kommen sollte, hatte Angst neben dem Haus herzuspazieren und war wütend, als dies von einer jungen Familie gekauft wurde. Aber langsam ging es mir besser, der Schock und das Trauma – wie meine Psychologin es nannte – ließen nach. Ich vergaß es nie, selbst als es Alltag wurde, konnte ich Herrn Khul nicht vergessen. Der Mann war schließlich immer da gewesen. Der Geist im Nachbarhaus. Wie wir ihn immer nannten.
Manchmal vergessen wir, dass Herr Khul mit den Bäumen sprach, und das wir von ihm gelernt haben, zu schwören, dass er einmal die Katze von dem anderen Nachbarn vergiften wollte, oder dass er uns manchmal anschrie, leiser zu spielen, dass er früher im Gefängnis war, wegen Drogen, oder dass er wahrscheinlich für Blibs Höhrproblem verantwortlich ist, und dass er nie lächelte, dass wir Angst vor ihm hatten, noch ganz am Anfang;
Aber wie gesagt: nur Gutes über den Toten.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: P. Réka, 15 Jahre