Nebel

Wettbewerbsbeitrag von Marie H., 16 Jahre

Sie saß einfach nur auf dieser Bank wie schon so viele Male. Selbst die zwitschernden Vögel und die frische Waldluft konnten sie nicht von dem bevorstehenden Nebel ablenken. Noch fanden die Sonnenstrahlen ihren Weg durch die hohen Baumkronen. Wie wunderschön es hier außen doch war. Sie stand auf, um den Heimweg anzutreten. Eine frische Brise kam und trieb sie immer weiter voran. Doch dann, inmitten der überwältigenden, tröstenden Natur blieb sie stehen und atmete tief ein, dann wieder aus. Der Wald und die reinigende Luft erdeten sie. Sie versuchte sich genau dieses Bild der starken, mächtigen Bäume mit ihren grünen Blättern einzuprägen. Eine schöne Erinnerung für schwierige Zeiten. Sie ging immer weiter im Bewusstsein, was gleich passieren würde und dann war es soweit. Zuhause stand der volle Teller vor ihr. Sie begann zu essen. Kämpfte weiter und weiter. Sie war fast fertig, als sie ihm nicht mehr entkommen konnte. Sie wurde eingehüllt vom Nebel der Lügen und Sorgen. Er wirbelte um sie herum, wurde immer dichter, ließ die Wahrheit im Keim ersticken. Es war eine normale Portion, bei der es nichts zu befürchten gab. Trotzdem kamen Zweifel, Angst und Reuegefühle in ihr auf. Diese „normale Portion“ - würde man es ihr ansehen? Wieviel Kalorien, wieviel Fett enthielt jenes Gericht? Warum hatte sie gegessen? Reue, ein erstickendes Gefühl des Bedauerns, stieg in ihr auf. Sie wurde überflutet von einer Welle schrecklicher Gefühle. Es war ein Fehler gewesen, der nicht mehr rückgängig zu machen war. Der Nebel wurde dichter, engte sie ein, ließ ihr keine Luft mehr zu atmen. Sie war unruhig, zitterte, wollte weg. Am liebsten an einen schönen Ort. Wie heute im Wald. Mit zusammengepressten Augen versuchte sie sich das Bild des Waldes in Erinnerung zu rufen. Allerdings war hier auch schon der Nebel eingedrungen. Trotzdem konnte man noch die Umrisse der Bäume erkennen, die jedem Sturm getrotzt hatten. Würde sie ihrem gegenwärtigen Sturm trotzen können? Würde sie den Weg aus dem Nebel finden? Sie gab sich Mühe, ihre Erinnerung nicht auch noch verschleiern zu lassen. Weiter, weiter. Immer weiterkämpfen. Plötzlich wurden die Farben wieder kräftiger und sie konnte den Wald förmlich riechen. Die Blätter wurden grüner denn je. Endlich konnte sie wieder aufatmen. Es war, als wäre sie tatsächlich in der Natur. Sie stellte sich einen beruhigenden Spaziergang vor. Dann aber wurde der feuchte Duft des Morgens durch den Geruch des Essens verdrängt. Auf der Stelle wurde sie auf dem Boden der Tatsachen zurückgeholt. Der sich mittlerweile zurückziehende Nebel drohte wieder näherzukommen. Sie schlug ihre Augen auf, angstvoll wieder in dessen Bann zu sein. Doch dann kamen ihr wieder und wieder die Erinnerungen vom Wald im Sinn. Dort gelang es ihr, den Nebel zurückzudrängen. Sie war wie er, der starke, imposante Baum, der den Stürmen trotzte. Auch sie hatte es eben schon fast geschafft, den Nebel zu verdrängen. Mit einem tiefen Atemzug zog sie alle Kraft aus ihren Ästen. Gegen die erdrückenden Gedanken ankämpfend, öffneten sich einzelne Lücken. Sie sah klarer, wurde sich bewusst, wie trügerisch der Nebel war. Mit dem verschwindenden Nebel zogen sich auch die Zweifel, Reuegefühle und Sorgen zurück. Sie kämpfte sich weiter durch den Nebel. Es wurde heller und klarer. Der Nebel wurde stetig weniger und wirkte nur noch wie Wolken. Schließlich zogen auch sie sich zurück. Sie war endlich frei von allen Gedanken. Erleichterung und unbändige Freude erfüllten sie. Sie hatte es geschafft. Dennoch hatte ihr der Weg aus dem Nebel viel abverlangt. Sie fühlte sich geschwächt, obwohl sie sich nun bewusst war, wie stark sie war. Sie aß den Teller auf und anstatt sich schlecht zu fühlen, war sie danach zum ersten Mal stolz auf sich. Stolz, den Weg aus Lug und Trug gefunden zu haben und stolz, aufgegessen zu haben. Sie hatte Widerstand geleistet und dieses Mal gesiegt. Sie war stolz diesen Kampf gegen die Essstörung gewonnen zu haben.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Marie H., 16 Jahre