Die Zeit vom Winde verweht

Wettbewerbsbeitrag von Annika Thöle, 16 Jahre

Wolken ziehen an mir vorbei, viel zu schnell, wie die Zeit. Diese vergeht auch zu schnell. Wieso sind die Wolken so groß? Warum bin ich so klein? Auf der Straße kann ich anderen Menschen, Erwachsenen, noch nicht in das Gesicht schauen, auf Augehöhe befinden wir uns wortwörtlich nicht. Das kann ich spüren. Dieser Kontrast zwischen mir und meiner Außenwelt macht mir Angst. Auch hier an dieser Schule wird es sich nicht anders anfühlen. 5. Klasse. Für mich klingt das alt, älter war ich schließlich nie. Trotzdem gehöre ich hier wieder zu den Kleinsten. In der Aula sitze ich nun unter meinen neuen Mitschülern, die im Moment aber noch nichts anderes als Fremde sind. Ich möchte keinen Blickkontakt mit diesen Gestalten herstellen, das traue ich mich nicht, denn sonst könnte ich womöglich bemerkt und als anders empfunden werden. Aus diesem Grund lasse ich meinen Blick umherwandern. Die Wände mit den bunten Plakaten entlang, die diesen Ort etwas weniger düster erscheinen lassen sollen, über den Boden, auf welchem sich meine Schritte so unsicher und unbedeutend anfühlen bis hoch an die Decke. Dort bleibt mein Blick hängen.

Es regnet. Ich fühle mich auch wie ein kleiner Regentropfen, zu klein und unauffällig, um als einzelner wahrgenommen zu werden. Niemand redet über den einzelnen Tropfen, sondern nur über deren Vereinigung, den Regen. Ich bilde mir ein, ihn riechen zu können. Regen riecht immer nach einem Neustart. Man hat das Gefühl, die Erde ist nach einem Regenschauer eine andere als zuvor. Alle Sorgen, Ängste und Zweifel werden von den kleinen Tropfen weggespült. Zurück bleibt nur das Schöne, das so tief in den Herzen der Menschen verankert ist, dass es auch der schlimmste Schauer nicht wegspülen kann. Aber gleichzeitig ist es ein vertrauter Geruch, der einem Sicherheit gibt. Regen verbindet jeden Neuanfang mit etwas Gewohntem.

Darüber denke ich nach, während ich die nicht enden wollende Treppe hinauflaufe. Ich weiß, dass alle Menschen in diesem Raum mich anschauen, aber nur darauf warten, dass endlich das eigene Kind diesen so wichtig erscheinenden Schritt in einen neuen Lebensabschnitt wagt.
Ich habe das Gefühl, der Regen über mir begleitet und beschützt mich. Er will mir sagen, dass ich keine Angst haben muss. Dass es nötig ist, loszulassen und somit die Kontrolle abzugeben, damit man sehen kann, was einem nach dem Unwetter noch bleibt. Jeder wünscht sich, dass danach alles wie beim Alten ist, womöglich sogar noch besser, am liebsten, ohne etwas dafür zu tun. Die Garantie für diesen Wunsch nicht zu bekommen, ist die Definition von Veränderung. Allerdings bedeutet Veränderung auch erst die Möglichkeit zu bekommen, diesen Wunsch selbst anzugehen. Denn natürlich gibt es auch Unwetter, die Chaos zurücklassen. Nach starken Überschwemmungen steht nichts mehr, bis auf das Fundament. Ist ein Haus, das einen Sturm nicht übersteht, überhaupt wert, dass ihm nachgetrauert wird? Nein. Nach dem Sturm hat man die Möglichkeit, das Haus erneut aufzubauen. Stein für Stein, das kostet viel Energie. Das Ergebnis ist allerdings ein Haus, das den nächsten Sturm übersteht und noch dazu die Erkenntnis, dass man manchmal alte Mauern einreißen muss, um eine neue, stabile bauen zu können.
Oben angekommen hebe ich den Blick und schaue in einen neuen Abschnitt meines Lebens, in Gesichter, die diesen Weg mit mir gehen werden.

Schon wieder Treppen. Diesmal sitze ich allerdings auf ihnen. Freiwillig. Die Sonne scheint mir auf die Beine. Dieses warme Kribbeln ist zu vergleichen mit dem Gefühl, dass ich habe, wenn ich jetzt, fünf Jahre später, an meinen ersten Schultag am Gymnasium zurückdenke. Ich hatte Angst. Jetzt erkenne ich, dass diese unbegründet war. Ich hatte Angst davor, meinen Platz hier, aber auch im Leben nicht zu finden. Einmal die falsche Abzweigung zu nehmen und mich zu verlaufen.
Was ich dabei nicht beachtet habe, ich bin doch ein Regentropfen. Niemals allein und in der Gemeinschaft stark. Es ist nicht schlimm, sich zu verlaufen, solange man Menschen hat, die einem zurück auf den richtigen Pfad helfen, die diesen schon gefunden haben. Manchmal stößt man auch gemeinsam an Mauern. Liebe, Empathie, Kreativität, das alles hat seine Grenzen. Aber nur weil etwas seine Grenzen hat, heißt es nicht, dass man diese nicht überwinden kann. Es heißt nur, dass dieser Prozess etwas mehr als nichts tun erfordert. Ich habe keinen guten Orientierungssinn. Manchmal werde ich von anderen als Sonnenschein bezeichnet und es kommt mir tatsächlich oft so vor, als würde ich mich von meiner Lebensfreude blenden lassen. Ich gehe nicht durchs Leben, ich hüpfe, am liebsten irgendetwas hinterher. Einem Schmetterling, einer schönen Melodie oder einem besonderen Menschen.
Viel zu oft bin ich deswegen an Orten gelandet, die ich nicht zum Ziel hatte. Allerdings durfte ich dort Menschen finden, die mir nicht nur den Weg zurück gezeigt haben, sondern ihn mit mir gegangen sind. Menschen, die vor Hindernissen nicht umgekehrt und den falschen Weg zurückgelaufen sind, sondern die mir einen Weg daran vorbeigezeigt haben.

Eine Träne läuft mir warm über das Gesicht, wie ein kleiner Regentropfen fühlt sie sich an. Wenn ich an mein bisheriges Leben, an alle daran beteiligten Menschen, zurückdenke, dann wird es mir ganz warm ums Herz. Dann fühle ich mich nicht mehr wie der einstige Regentropfen, klein und unbedeutend, sondern ich weiß, dass ich auch als Teil von etwas Großem ein Individuum bin und die Möglichkeit habe, etwas zu verändern. Ich habe angefangen, Sonnenstrahlen an Sonnentagen zu sammeln und diese ganz tief in mir aufzubewahren, für schlechte Zeiten. Auf keinen Fall möchte ich sie verschwenden, aber ich habe trotzdem das Gefühl, dass dieses Leuchten zu hell ist, um es zu verbergen. Dass ich strahle, aufgrund der schönen Erinnerungen, die sich in meinem Herzen befinden. Auch an Regentagen, diese wird es immer geben. Mit dem Unterschied, dass der Himmel dann nicht mehr grau und traurig aussieht. Denn wie jeder weiß, entsteht ein Regenbogen dann, wenn Sonnenschein und kleine Regentropfen aufeinandertreffen.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Stand: August 2022