Ausgesprochene Ängste

Wettbewerbsbeitrag von Rike Kade, 17 Jahre

„Hast du Angst?“
Ständig. Wenn sie in hinter Masken verborgene Gesichter sah, in Zeitungen oder fest in eine Decke eingekuschelt die Tagesnachrichten schaute. Berichte schaute und Zahlen. Endloslange Zahlen von Opfern und Überlebenden und ausgebombten Städten, von Patienten auf den Intensivbetten. Sie hatte so eine große Angst vor Zahlen.
„Nein.“ Sie lächelte. „Und du?“
„Nein“, sagte er. „Jetzt ist mir alles klar.“
Er hob einen Stein vom Flussufer auf, ließ ihn über das Wasser springen. Viermal.
Sie machte es ihm nach, weil sie ihm alles nachmachte. Der Stein ging sofort unter.
Er lachte. „Tut mir leid, dass das so kurzfristig war.“
Sie wollte sagen, dass sie all ihre Pläne für ihn hatte umwerfen müssen, schon wieder. Dass sie stundenlang geweint hatte, weil sie schon vermutete, was er ihr sagen wollte, schon wieder. Das wollte sie ihm sagen, dass er egoistisch war, nicht mit böser Absicht, sondern einfach so nebenbei. Er war der Meister des Einfach-So-Nebenbei egoistisch Seins. Stattdessen sagte sie: „Schon okay.“
Er wand sich, ließ noch einen Stein über das graue Wasser springen. „Ich wollte mit dir reden, denn im Augenblick habe ich das Gefühl, dass das alles nicht stimmt.“
„Was stimmt nicht?“ Die meisten Dinge, die sie sagte, stimmten nicht.
„Wir stimmen nicht.“
Wenn man etwas erwartete, vor dem man sich fürchtete, minderte das Erwarten den Schlag keineswegs, merkte sie. Es tat ganz genauso weh. Aber sie konnte nicht viel tun. Sie hatte sich vor Jahren ganz tief in ihrem Schneckenhaus der erlogenen Geschichten und verbotenen Gefühle versteckt und jetzt fand sie den Weg nach draußen nicht mehr.
Er kratzte sich geistesabwesend über das Kinn.
Sie kratzte sich geistesanwesend über das Kinn.
„Willst du dazu nichts sagen?“
Nein, eigentlich wollte sie schweigen. Sie wollte überhaupt im Moment möglichst wenig sagen und sie wollte auch möglichst wenig hören. Wenig zu Totenberichten und Krankenhausbelegungen, wenig zu Verboten und am allerwenigsten zu auseinanderbrechenden Beziehungen. „Doch“, sagte sie stattdessen. „Da will ich schon etwas zu sagen.“
Er drehte den Kopf zu ihr herum, gespannt. Das war das erste Mal an diesem Tag, dass er sie ansah, so richtig ansah. Und als sie in seine Augen blickte, hoffnungsvoll geweitet, da fragte sie sich, ob er von ihr hören wollte, dass sie das wieder kitten konnten. Ob er nur irgendein Zeichen von ihr erwartete, dass sie kämpfen würde um ihre Beziehung. Um ihn.
Aber weil sie sich eben nicht sicher war und weil sie viel zu feige war und viel zu ängstlich und überhaupt viel zu viel sagte sie: „Du hast recht. Da stimmt ganz viel nicht.“

Er drehte den Kopf weg. Sie drehte ihren auch weg.
„Okay.“ Er klopfte sich die Kieselsteine von der Hose. Ein Schiff fuhr vorbei. So viele Menschen mit Masken. Sie hatte Angst. Nicht vor den Masken. Sondern davor, welche Art von Menschen sich dahinter verbargen. „Gut, dass wir uns einig sind“, setzte er etwas später nach.
„Ja, das finde ich auch gut.“ Sie riss sich in ihrem Inneren ganz fest zusammen, weil sie fürchtete, wenn sie sich nicht zusammenriss, wenn sie nicht lächelte und log, dann brach alles noch mehr auseinander, dann brach ihr ganzes Leben auseinander, mehr noch, dann brach vielleicht die ganze Welt auseinander. Wenn die Menschen sich nicht zusammenrissen.
Sie saßen schweigend da, sie beide. Eigentlich hatten sie gar keinen bestimmten Trennungsgrund, er hatte sich nicht erklärt und sie hatte auch keine Erklärung verlangt. Das war ein Zeichen, dachte sie, ein Zeichen dafür, dass sie schon eine ganze Weile eher aneinander vorbeigelebt hatten als aufeinander zu. Wegen der Angst vor den Zahlen und wegen ihres Schneckenhauses.

„Wirklich gut“, wiederholte er.
„Ja, das finde ich auch wirklich gut.“
Sie schwiegen wieder. Er wartete auf das Kämpfen und sie wartete darauf, dass er aufstand und ging und sie alleine ließ. Nicht, weil sie das wollte. Sondern weil sie mittlerweile glaubte, das wäre besser für ihn.
Aufstehen und gehen. Die Augen verschließen. Die Augen hinter der Maske. Die Augen vor den Fernsehberichten, vor den Tageszeitungen und den sozialen Medien. Niemand konnte die Augen besser vor Dingen verschließen als sie.
„Nein“, sagte er plötzlich. „Das kann doch nicht sein.“
„Was denn?“
Er schlug mit der Faust auf einen Stein. Das sah schmerzhaft aus, aber er verzog keine Miene. „Das hier, das soll es jetzt gewesen sein? Mit dahingesagten Floskeln und Halbsätzen wollen wir die Beziehung beenden?“
„Du willst das“, sagte sie. Das war ihre erste Wahrheit.
„Ich will, dass du mir sagst, dass du es nicht willst.“
„Ich will das nicht.“
Er raufte sich die Haare. Es sah aus, als würde er den ganzen Körper anspannen, jeden einzelnen Muskel. „Ich will aber nicht, dass du das nur sagst, weil du denkst, ich will es hören.“
Sie schloss die Augen. Nur für eine Sekunde. Dann riss sie sie wieder auf. Und diesmal sprudelten die unausgesprochenen Wahrheiten aus ihr heraus. „Ich will nicht, dass es so endet. Ich finde nicht, dass wir nicht stimmen, ich finde die Welt stimmt nicht. Als du gefragt hast, ob ich Angst habe, da hätte ich ja sagen sollen, weil ich so eine große Angst vor der ganzen Welt habe und vor allem vor ihren Zahlen. So eine große Angst, dass ich am liebsten nicht mehr sprechen will und nicht mehr zuhören und ich weiß nicht, ich weiß einfach nicht, wie ich diese Angst besiegen kann.“

Es knackte in ihrem Innern, aber das war nicht ihr Herz, das brach, es war das Schneckenhaus. Sie konnte atmen. Und sehen. Weil ausgesprochene Ängste besser waren als eingeschlossene Wahrheiten.
Er streckte die Hand nach ihr aus. Er grinste. So wie man sich das vorstellte, dass jemand über beide Ohren grinste, so saß er da auf den Kieselsteinen am grauen Fluss. „Wir brauchen mehr Menschen wie dich.“
„Was?“
„Menschen, die aussprechen und nicht verschweigen. Mit Worten kann man umgehen. Gemeinsam.“
Sie ergriff seine Hand.

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Autorin / Autor: Rike Kade