Verschmutzte Küsse

Verliebt in einen Obdachlosen

„Verlass mich nicht!“. Seine Worte hallten durch den dunklen Tunnel. Ich blickte zurück, blickte ihn an, blickte alles an, was er besaß. Es war nicht viel, was es da zu sehen gab. Ein verdreckter, kleiner Hund, ein altes Radio, eine Decke und sein Pappbecher, in dem er Geld sammelte. Heute war die Ausbeute gut gewesen, hatte er gesagt. Fast zwei Euro, davon musste er morgen leben. Ich wandte mich um, heftete den Blick auf den Boden und versuchte, nicht zu rennen. Noch immer herrschte Chaos in meinem Kopf und meine Gedanken ergaben keinen Sinn. Seit ich Saddy zum ersten Mal gesehen hatte, kämpften zwei Gefühle in meinem Kopf miteinander, die unterschiedlicher nicht hätten sein können: Abscheu gegen Anziehung.

Der Unbekannte aus der U-Bahnstation

Saddy lebte auf der Straße, war abgehauen von zu Hause, um den täglichen Schlägen zu entgehen. Er bettelte in der Stadt, sprach Leute an und versuchte, ihnen etwas Kleingeld zu entlocken. So hatte er es auch mit mir versucht. Ich ging vor ungefähr einem knappen Monat mit zehn Kilo Klopapier durch die Dortmunder Innenstadt. Natürlich hatte ich meiner Mutter mehrmals erklärt, dass niemand sein Kind in die Stadt schickt, um die Familienpackung Klopapier zu besorgen. Meine Beharrlichkeit stieß jedoch nicht auf Verständnis und so ging ich mit gesenktem Kopf durch die Straßen, um bloß niemandem in die Augen sehen zu müssen. Auf einmal spürte ich ein winziges Ziehen an meiner Tasche. Schnell drehte ich mich um, ließ die Klopapiermasse fallen und zog meine Tasche zu mir heran. Da stand er und sah mich herausfordernd an. „Sag mal, wolltest du mir gerade meine Tasche klauen?“, fuhr ich ihn an. Ja, in der Schule glaubt man es mir zwar nicht, aber auch ich, die Klassen-Streberin, kann sehr temperamentvoll sein. „Ich wollte dir doch nicht deine Tasche klauen“, erwiderte er mit von Ironie triefender Stimme, „ich wollte nur gucken, ob dein Klopapier vier- oder fünf Lagen hat. Oh, wie ich sehe nur vier. Schade eigentlich, aber dafür samtweich.“ Er lachte und streckte mir seine Hand entgegen. „Ich bin Saddy. Und wer bist du? Die Klopapierfee?“ Insgeheim verfluchte ich Mamas Klopapier... „So langsam reicht es mir. Ich bin Anna…“, brummelte ich vor mich hin. Er begleitete mich ein Stück bis zur U-Bahn Station und nahm mir sogar eine Familienpackung besagten Papiers ab. Als wir ankamen sagte er: „Trifft sich gut. Hier wohne ich.“ Ich blickte mich um. Die U-Bahn Station war verdreckt und es stank fürchterlich. Er musste mein Naserümpfen bemerkt haben und erklärte mir, dass er weder Eltern, Verwandte und Freunde noch ein Dach und warme Kleider hatte. Seine Geschichte faszinierte mich. Von nun an kam ich jeden Tag hierher, an die U-Bahn und der Bahnhof wurde zu unserem inoffiziellen Treffpunkt.

Ich bin sad…traurig und einfach nur Saddy

Irgendwann fragte ich ihn: „Saddy, wie feierst du Weihnachten?“ „Du hörst wohl nie auf mit deiner ewigen Fragerei, oder? Ich weiß nicht mal, wann Weihnachten ist. Hier draußen verliert man jegliches Zeitgefühl. Früher war Weihnachten der schönste Tag im Jahr für mich. Draußen war es dunkel, doch im Haus war es gemütlich und die Kekse, die Geschenke und die Ruhe waren unvergleichlich. Auf der Straße ist Weihnachten der schrecklichste Tag im Jahr. Es ist kalt und deine Nase erfriert. Du bist der einsamste Mensch auf der ganzen Welt. Abends gehe ich durch die Straßen und sehe durch die Fenster all das, was ich nicht habe. Die Familien essen gemeinsam zu Abend, singen Lieder oder packen Geschenke aus. Mein Name passt dann zu meinen Gefühlen. Ich bin sad…traurig und einfach nur Saddy.“ Zwischen uns herrschte Stille. Was er da sagte, machte auch mich unendlich traurig und mit vielen Gedanken im Kopf, machte ich mich auf den Heimweg.

Auf dem Weg zu einem obdachlosen Jungen

Es war Heiligabend. Der Kamin brannte und der Weihnachtsbaum leuchtete. Die Geschenke waren ausgepackt und gegessen hatten wir auch. Trotzdem konnte ich mich nicht so richtig freuen. Irgendwann nahm ich unsere letzen Kekse, packte ein paar Kerzen ein und schlich mich aus dem Haus. Was wohl meine Eltern dazu sagen würden, wenn sie wüssten, dass ihre geliebte und anständige Tochter auf dem Weg zu einem obdachlosen Jungen war, in den sie sich gerade verliebte? Als ich ankam, wartete er schon auf mich. „Ich hatte gehofft, das du kommen würdest“ sagte er und lächelte sein unbeschreibliches Lächeln. Wir setzten uns auf einer zugefrorenen Wiese in den Schnee und steckten die Kerzen in den Boden. Dann aßen wir die Kekse. Plötzlich beugte sich Saddy zu mir und flüsterte: „Frohe Weihnachten, Anna“. Als ich seine Lippen auf meinen spürte, durchfuhr mich ein kleiner Schauder. Ja, so fühlte sich Weihnachten an.

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Autorin / Autor: schneewibkchen - Stand: 3. Dezember 2008