Allein

Adventsgeschichten zum Thema "Bahnhof"

Die Schaufenster des Leipziger Bahnhofs waren so schön geschmückt. Überall sah ich helle leuchtende Lichter, glitzerndes Lametta, Tannenbäume und lachende Weihnachtsmänner. Alles schien so hell und doch war meine Seele dunkel. Weihnachten ein Fest der Freude? Das war es für mich schon lange nicht mehr. Nicht mehr seitdem ich vor einen Jahr aus dem Kinderheim abgehauen war.

Meine Eltern waren gestorben und so brachten sie mich an einen Ort, welchen ich heute oft mit der Hölle vergleiche. Denn sie versuchten mir dort die Freiheit zu nehmen, die ich doch so sehr liebte. Als ich es nicht mehr aushielt, lief ich weg. Überraschender Weise schienen sie mich nicht mal zu vermissen, was mich (obwohl ich es nie zugegeben hätte) schmerzte. Ich sah die ganzen Leute auf ihre Züge warten. Mich wunderte das. An Weihnachten sollten alle bei ihrer Familie sein und die schöne Zeit genießen. Glaubt mir, damals vernahm ich es als Selbstverständlichkeit bei meinen Eltern zu sein. Der Mensch merkt erst wie sehr er etwas liebt, wenn er es verliert. Das wurde mir zu spät bewusst.

Ich sah mein Spiegelbild in einen der Schaufenster und erkannte mich nicht mehr. Was war aus dem schönen, immer lachenden kleinen Mädchen geworden? Ein langer Seufzer entwich mir und ich ging weiter. Mir taten die Zugführer leid, die arbeiten mussten und die Krankenschwestern, Altenpfleger, und eigentlich alle, die nicht bei ihren Lieben sein konnten. Ich beobachtete die Menschen und überlegte, warum sie wohl unterwegs waren. Es waren bestimmt einige hundert Leute auf den Bahnhof und doch fühlte ich mich so einsam. Es war so absurd, dass sich in meiner Nähe so viele Menschen befanden und ich mich doch noch nie einsamer gefühlt habe. Blicke streiften mich, doch keiner sah mich wirklich.

Jeder sah das schmuddelige junge Mädchen, welches sichtlich kein Zuhause hatte. Viele sahen sofort weg, ich verstand nicht weshalb. Vielleicht hatten sie Angst, dass ich Spenden erwartete. Doch was ich mir von ihnen wünschte war nicht einmal Geld. Ich wünschte mir, dass sie das Leid in meinen Augen sahen und, wenn es auch nur eine Sekunde wäre, an die Leute dachten, denen es schlechter geht als ihnen, an die Kinder in Afrika welche vielleicht genau an Weihnachten ihre Mutter verloren oder qualvoll verhungerten. Ich wollte einfach nur, das sie an arme Leute dachten, auch wenn es nur kurz war.

Meine grünen Augen tasteten den Bahnhof ab. „Alexa?“ hörte ich plötzlich jemanden meinen Namen rufen. Überrascht drehte ich mich um und blickte einen Mann an. „Kennen wir uns?“ fragte ich. „Ich bin der Bruder deines Vaters.“ Erstaunt sah ich ihn an. „Wie bitte?“ fragte ich, obwohl ich ihn sehr wohl verstanden hatte. „Weißt du eigentlich, dass ich dich, seitdem du weggelaufen bist, suche?“

„Woher weißt du, dass ich weggelaufen bin?“ „Nachdem deine Eltern gestorben sind, Gott habe sie selig, wurde ich sofort informiert, dass du lebst. Doch zu diesen Zeitpunkt war ich auf einer wichtigen Geschäftsreise in England. Als ich zurückkehrte um dich zu mir und meiner Familie zu holen, wurde mir gesagt, dass du weggelaufen bist. Seitdem suche ich dich.“ „Was machst du an Weihnachten hier?“ fragte ich und senkte den Blick auf meine Schuhe. „Ich bin auf den Weg nach Hause. Kommst du mit?“

Ich hob den Kopf und sah wie er mir seine Hand entgegen streckte. Ganz deutlich spürte ich, wie sich meine Augen mit Tränen füllten. Ich fühlte mich nicht mehr allein, denn ich war es nicht. Dankbar ergriff ich die Hand meines Onkels und wir machten uns auf den Weg nach Hause. Ich fühlte mich geborgen und nicht mehr allein. Ich sah meinen Onkel ins Gesicht und erkannte die Augen meines Vaters. Tränen schossen aus meinen Augen und ich fühlte, wie mein Onkel mich umarmte. Die Wärme seiner Umarmung gab mir die Kraft, in den Sternenhimmel zu blicken. Ich spürte wie jemand mich zu beobachten schien. Und ich glaubte ganz fest daran, dass meine Eltern mich vom Himmel sahen. Ein Windzug fuhr mir durch das Haar und ich hörte ganz deutlich wie meine Eltern riefen: „Fröhliche Weihnachten!“ Mit Tränen in den Augen und zitternder Stimme antwortete ich den Sternen: „Euch auch fröhliche Weihnachten! Und irgendwann sehen wir uns wieder!“

Mein Onkel sah mich verwundert an, ich lächelte und es war, als ob mir jemand sanft durchs Haar streichelte. Ich blickte erneut zu den Sternen empor und sagte: „Ich liebe euch, Mama und Papa!!“ Und ich wusste tief in meinen Inneren, dass sie es hörten. Und was ich noch wusste war, dass ich eigentlich nie allein gewesen war. Denn egal, wohin mein Weg mich führen würde, meine Eltern würden immer über mich wachen. Ich ergriff die Hand meines Onkels und wir gingen nach Hause.

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Autorin / Autor: Pauline - Stand: 3. Dezember 2008