Mit der Nähmaschine in eine nachhaltige Zukunft

"Um die Kleidungsindustrie nachhaltig zu reformieren und zu revolutionieren, braucht es meiner Meinung nach zwar kluge Köpfe, die aber auch das Handwerk verstehen müssen, um etwas bewirken zu können", sagt Rika, die eine Ausbildung zur Damenmaßschneiderin macht.

Rika macht eine vollschulische Ausbildung zur Damenmaßschneiderin an der Max-Eyth-Schule in Alsfeld, einem kleinen Städtchen in Osthessen. Derzeit befindet sie sich im dritten Lehrjahr. Wir wollten von ihr wissen, wie sie auf diesen Ausbildungswunsch gekommen ist und was man dabei so alles lernt.

War Damenmaßschneiderin schon immer dein Berufswunsch?

Tatsächlich bin ich eher zufällig an den Beruf gekommen. Ich habe 2020 mein Abitur gemacht. Leider hat Corona meinem geplanten Orientierungsjahr mit Praktika einen gewaltigen Strich durch die Rechnung gemacht. Ich habe dann versucht, etwas Sinnvolles zu finden, das mir Spaß macht, und da ich schon immer gerne kreativ gearbeitet habe und mich bereits als Teenager darin versucht habe, Kleidung zu zeichnen und zu nähen, kam ich auf die Idee, eine Ausbildung in diesem Bereich zu beginnen. Recht schnell bin ich bei meiner Internetrecherche auf die Max-Eyth-Schule gestoßen. Nun habe ich zwar einen 50-minütigen Schulweg, aber das ist es auf jeden Fall wert.

Hast du vor deiner Ausbildung schonmal ein Praktikum in diesem Bereich gemacht?

Ein Praktikum hatte ich vorher noch nicht in dem Bereich gemacht. Ich kannte bereits ein paar nähtechnische Basics von meiner Mutter, aber ich bin vorher noch nie in einem Schneider-Atelier oder ähnlichem gewesen.

Was sind die Inhalte der Ausbildung?

Meiner Meinung nach sind die Lerninhalte meiner Ausbildung sehr abwechslungsreich. Da ist für fast jeden was dabei. Es gibt Bereiche, die Kreativität erfordern und andere sind reines Handwerk. In der Praxis lerne ich alles, was ich zum Nähen jeglicher Damenbekleidung gebrauchen kann. Angefangen von geraden Schließnähten, über Krägen und Reißverschlüsse bis hin zu komplizierten Taschen.

Was lernst du dort konkret?

Zu Beginn haben meine Mitschüler:innen und ich auf Mustertüchern die Kleinteile-Verarbeitung gelernt und die Basics geübt. Dann haben wir unsere ersten Röcke genäht, Blusen, Hosen, Westen und bereits eine Jacke. Im kommenden dritten Lehrjahr stehen noch die Blazer- und Mantelverarbeitung an.
Neben der reinen Technik des Nähens, lernen wir unter anderem, uns und andere auszumessen und Kleidungsschnitte dementsprechend anzupassen. Das ist ein wichtiger Teil der MASSschneiderlehre.
In der Theorie lerne ich reichlich über Textilien generell. Wie sie hergestellt werden und woraus, was sie für Eigenschaften haben und wofür sie verwendet werden. Ich lerne beispielsweise, welche Arten von Maschinen es gibt, aber auch was für Kleidung existiert, wie man erkennt, welche Formen und Farben den Kundinnen stehen und vieles mehr. Im Theorieunterricht bekomme ich außerdem beigebracht, wie ich Kleidungsmodelle sowohl technisch, als auch gestalterisch zu Papier bringe.

Spielen Umwelt- und Nachhaltigkeitsthemen bei der Ausbildung eine Rolle?

Nachhaltigkeit spielt beim tatsächlichen Nähen in der Praxis leider keine so große Rolle, wie ich es mir vielleicht wünschen würde. Wir lernen zwar, wie man sparsam mit den Stoffen umgeht, aber ich denke, das bezieht sich hauptsächlich auf den wirtschaftlichen Aspekt.
Im Theorieunterricht ist das wiederum etwas anderes. Ich habe bereits gelernt, auf welche Art und Weise unterschiedliche Rohstoffe für die Textilien gewonnen werden und wie die Weiterverarbeitung sich auf die Umwelt auswirkt. Wir sprechen im Unterricht über Herstellungsketten, Umweltsiegel und Fast Fashion. Im Ethik-Unterricht haben wir zuletzt eine Diskussion vorbereitet und geführt, bei der es um die Verantwortlichkeit in der Modeindustrie ging, außerdem haben wir ein Online Escape-Room-Spiel zum Thema „Umwelt und Mode“ mit der Klasse gespielt.
Obwohl Schneider:in als Beruf mit der Zeit auszusterben scheint, bin ich der Meinung, dass das Konzept von Maß- und Änderungsschneiderei aktueller ist denn je. Die Kleidung wird in der Maßschneiderei nicht nur angepasst auf die individuelle Körperform und den Geschmack der Kund:innen, sondern sie wird auch so hergestellt, dass sie nachhaltig ist und lange hält. In der Änderungsschneiderei dagegen kann Kleidung neu auf den individuellen Körper angepasst und sogar repariert werden. All das ist besonders nachhaltig und deutlich besser für die Umwelt als Fast Fashion, auch wenn die Verwendung von nachhaltig hergestellten Stoffen immer noch nicht die Regel in der Branche ist.

Was magst du besonders an der Ausbildung/dem Beruf?

Ich finde es besonders schön, wie der Beruf Kreativität und Handwerk verbindet. Sich eigene Kleidung nähen zu können und seinen eigenen Stil dadurch zu formen, ist eine schöne Sache. Da man im Lernprozess ein Kleidungsstück öfter als einmal zur Übung genäht haben sollte, dürfen wir Schüler:innen zwischendurch auch immer etwas für uns selbst nähen und das ist echt super. Außerdem ist das Gefühl, das man bekommt, wenn man ein Kleidungsstück mit den eigenen Händen fertigstellt hat und etwas in der Hand hält, das gut verarbeitet ist, unglaublich erfüllend.
In der Ausbildung an sich macht mir aber die Vorbereitung der Modenschauen, die wir jährlich veranstalten, am meisten Spaß. Dafür designen wir zu einem bestimmten Thema unser eigenes Outfit in mehreren Zeichnungen, suchen uns Grundschnitte dafür heraus, die wir gemeinsam mit unserer Ausbilderin abändern und anschließend nähen und auf den Laufsteg bringen. Das ist etwas ganz besonderes und man lernt sehr viel dabei.
In nächster Zeit freue ich mich zudem noch besonders darauf, Modegeschichte in der Berufsschule durchzunehmen, weil mich das wirklich interessiert. Ich finde es toll, dass wir selbst in der Theorie so vielfältige Themen durchnehmen. Ich hätte vorher nie gedacht, dass ich mich so sehr auf theoretischen Unterricht freuen könnte.

Wo kannst du als Maßschneiderin später mal arbeiten?

Die Berufsmöglichkeiten sind als Maßschneiderin tatsächlich noch immer recht vielfältig. Ich kann ganz klassisch in einem Atelier arbeiten, ein eigenes eröffnen oder auch so etwas wie eine Boutique eröffnen und eigene Kollektionen erstellen. Wenn ich meinen Meister machen möchte, brauche ich drei Jahre Berufserfahrung als Gesellin. Man kann auch in Schneidereien an Theatern und Opern arbeiten oder auch noch eine Ausbildung als Kostümbildner:in darauf setzen. Viele studieren auch nach der Lehre in Studiengängen wie Modedesign oder Modejournalismus. Da sind junge Menschen, die aus dem Handwerk kommen, immer gerne gesehen, weil sie schon einiges an praktischer Erfahrung mitbringen.
Genauso gibt es Modeschulen, die reine Weiterbildungen anbieten wie beispielsweise einen Bachelor und Master in Produktentwicklung Mode, mit dem man gut in die Modeindustrie gehen kann. Es gibt noch sehr viel mehr Möglichkeiten, ich persönlich weiß aber noch nicht genau, was ich mit meiner Ausbildung anstellen möchte. Zur Zeit bin ich sehr interessiert an Kostümen und kann mir vorstellen, später mal am Theater oder mit Filmkostümen zu arbeiten.

Gibst du uns noch ein paar generelle Infos zum Ausbildungsgang?

Die Ausbildung zur Maßschneider:in dauert drei Jahre. Es gibt ähnliche Ausbildungsberufe wie Modenäher:in oder Änderungsschneider:in, die nur zwei Jahre in Anspruch nehmen. Für die Maßschneider:in-Ausbildung ist ein Hauptschulabschluss völlig ausreichend. Wenn man Abitur hat, kann man gegebenenfalls auch direkt in das zweite Lehrjahr einsteigen, was ich allerdings nicht empfehlen würde, weil das erste Lehrjahr sowohl in der Praxis als auch in der Theorie einen sehr wichtigen Grundstein legt, den ich auf keinen Fall auslassen würde.

Welche Voraussetzungen und Interessen sollten man mitbringen?

Dass man schonmal vor einer Nähmaschine gesessen hat, ist keine Voraussetzung für die Ausbildung, aber schaden wird es nicht. Wir haben das Nähen und den Umgang mit den Maschinen von Grund auf beigebracht bekommen. Selbst wer vorher schon nähen konnte oder sogar bereits sehr gut darin war, kann dabei viel lernen, und man wird schnell merken, dass einige Dinge anders gemacht werden, als man sie vorher kannte.
Auch Kreativität ist kein Muss, erweist sich aber an manchen Stellen als praktisch. Wer völlig unkreativ ist, braucht aber auch keine Angst vor der Ausbildung zu haben. Niemand wird dazu genötigt, sich auszuleben.
Man sollte dennoch ein gewisses Maß an Fingerspitzengefühl und Geduld mitbringen, denn nicht immer klappt alles beim Nähen so, wie man sich das wünscht und das kann auch mal frustrieren.
Wichtig ist auch, ein wenig grundlegendes handwerkliches Verständnis für Formen zu besitzen, da bei der Herstellung von Kleidung aus 2D-Objekten, dreidimensionale Körper werden und ohne ein bisschen natürliches Verständnis dafür, könnte es beim praktischen Lernen schwieriger werden. Doch auch da braucht man sich nicht zu fürchten, nicht mitzukommen. Unsere Lehrer versuchen stets, uns alles in unseren unterschiedlichen Tempi beizubringen.

Was ist der Unterschied zwischen einer schulischen und einer Ausbildung im Betrieb?

Im Gegensatz zu einer betrieblichen Ausbildung, habe ich mit meiner vollschulischen keinen Arbeitgeber, folglich bekomme ich auch keine Ausbildungsvergütung. Das erscheint erst einmal abschreckend, doch das Lernen in der Schule hat einige Vorteile. Zwar bekomme ich kein Geld, bin aber in meinem Lernprozess nicht angewiesen auf betriebliche Abläufe. Das bedeutet, dass ich in den Werkstätten, die sich in der Schule befinden, alle wichtigen, praktischen Inhalte Schritt für Schritt in sinnvoller Reihenfolge lernen kann, was sonst nicht immer in der Form möglich ist. In vielen Betrieben müssen sich die Azubis im Alltag auf die Tätigkeiten beschränken, die im Betrieb anstehen und mit ihrem jeweiligen Lernstand möglich sind. Auf der anderen Seite gibt ihnen das mehr Routine und Übung.
Sehr froh bin ich aber darüber, dass der schulische Lehrplan uns Schüler:innen Raum gibt, zu Übungszwecken Kleidungsstücke für uns selbst zu nähen, sowie Projekte wie die jährliche Modenschau zu veranstalten. Ein weiterer Unterschied ist, dass wir mit einer ganzen Klasse in einem Werkstattraum arbeiten, uns also gegenseitig helfen können und voneinander lernen. Zudem müssen wir keinen Urlaub beantragen, sondern haben reguläre Schulferien. In diesen müssen wir allerdings innerhalb der drei Lehrjahre 45 Praktikumstage für Praxiserfahrung in Betrieben absolvieren, die wir uns selbst einteilen können. Dabei haben wir auch die Möglichkeit ins Ausland zu gehen, da unsere Schule als Europaschule Förderungen für Praktika innerhalb der gesamten EU bekommen kann. Das ist ziemlich cool.

Würdest du diese Ausbildung weiterempfehlen?

Generell bin ich sehr zufrieden mit meiner Ausbildung. Ich weiß zwar noch nicht, was ich hinterher damit vorhabe, aber die Arbeit macht mir total Spaß! Leider stirbt der Beruf immer mehr aus, und das Handwerk wird wegen Fast Fashion immer weniger geschätzt. Trotzdem kann ich jedem nur empfehlen, diese Ausbildung zu machen, da sie einen guten Einstieg in die heutige Modeindustrie darstellt und einen wichtigen Grundstein für Berufe wie Modedesigner:in bildet. Um außerdem die Kleidungsindustrie nachhaltig zu reformieren und zu revolutionieren, braucht es meiner Meinung nach zwar kluge Köpfe, die aber auch das Handwerk verstehen müssen, um etwas bewirken zu können.

Vielen Dank für die vielen informativen Einblicke in deine Ausbildung und viel Spaß und Erfolg weiterhin damit!

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Autorin / Autor: Rika Amshoff, Redaktion; alle Fotos: Rika Amshoff - Stand: 21. September 2022