World Revolution

Von Lena Grundmann, 18 Jahre

Immer wieder ertönte ein gedämpftes Klung, während Nils den Löffel beim Umrühren gegen den Rand seiner Kaffeetasse schlug. Seine Wangen brannten rot und sein Blick war auf seinen Kaffee gerichtet, denn er wurde beobachtet. Seit er vor dem Weltuntergangswetter ins Café geflüchtet war, hatte sie nicht aufgehört, ihn anzustarren. Er musste all seinen Mut zusammennehmen, um es zu wagen, rüber zum Barhocker zu schauen, auf dem seine Beobachterin saß. Die junge Frau nippt an ihrem Martini. Er hob den Blick noch etwas höher. Rehbraune Augen schauten ihn an. Wie ein kleiner, verknallter Junge lächelte er ihr zu, was sie zum Aufstehen bewegte. Schwarzes Haar umspielte ihr Gesicht und hohe Schuhe klackerten, als sie über das Parkett lief. Die Fremde setzte sich auf den Stuhl ihm gegenüber. Eine Strähne strich über ihre rosige Wange und endete an ihrem dünnen Hals. Eine wahre Schönheit.
„Hallo“, sagte sie und ihre Stimme klang wie eine bezaubernde Melodie.
„Hallo. Kennen wir uns?“, fragte Nils mit runtergeschluckter Nervosität und wartete, dass sie erklärte, warum sie ihn so schamlos angestarrt hatte.
„Nicht, dass ich wüsste. Ich bin bloß herübergekommen, weil ich dachte, bei diesem Wetter sollte niemand allein sein müssen. Außerdem sehen Sie traurig aus.“
Da konnte er ihr nicht widersprechen. Das Leben hatte mal wieder zugeschlagen und ihn genervt zurückgelassen. „Sie wollen mir also Gesellschaft leisten?“
Entspannt schlürfte sie am Martini. „Ich glaube eher, dass Sie mir Gesellschaft leisten wollen, denn ich wüsste etwas, um Sie aufzuheitern. Ich suche noch jemanden für eine Unternehmung. Sie und ich, heute Abend. Wie wär’s?“
Er zog die Augenbrauen hoch. Das ging schnell. Möglicherweise zu schnell …? Er hatte sie schließlich nie zuvor gesehen. Wie zur Bestätigung seiner Skepsis rollte über das Café ein Donnergrollen hinweg, so laut und nah, als käme es direkt aus der Mitte seines Körpers.
Vielleicht würde das Gefühl vergehen, wenn er mehr über sie herausfand. „Wie heißen Sie?“
„Allie.“ Sie grinste und stellte ihr leeres Glas ab.
„Schön, dich kennenzulernen, Allie. Ich bin Nils. Wohnst du in der Gegend?“
„Beruflich unterwegs.“
Er nickte und trank einen Schluck Kaffee. „Ich bin vor kurzem zwei Straßen weiter eingezogen.“ Als sie keine Regung zeigte, wechselte er das Thema. „Was für eine Unternehmung stellst du dir vor?“
Allie ließ sich von seiner Fragerei nicht aus der Ruhe bringen. „Als Sie, Nils, ins Café kamen, habe ich sofort gesehen, dass Sie der richtige Partner für ein Abenteuer sind.“
Nils schaute an sich hinunter, auf das alte Karohemd und die graue Jogginghose. Seiner Meinung nach eher ein abschreckender Look, aber wer wusste schon, wie Frauen dachten? Er trank seinen Kaffee in einem Zug aus und beschloss, seine Bedenken für diesen Abend zu vergessen. Seine Freunde hatten immer gesagt, er wäre zu verklemmt. Ha! Denen würde er es zeigen!
„Also gut.“
„Sehr schön. Dann lassen Sie uns etwas unternehmen, jetzt, wo die Sonne gerade rauskommt.“
Er schaute aus der großen Fensterfront und tatsächlich sah man die Wolken, die eben noch das Weltuntergangswetter gebracht hatten, am Himmel weiterziehen. Es gefiel ihm, wie das Wetter mit seinem Stimmungswandel einherging. Vielleicht bekam der Tag doch einen schönen Abschluss.
„Was hältst du von einem Besuch im Park oder im Kino?“
Allie stand auf und schüttelte den Kopf. „Ich befürchte, Sie verstehen das Wort Abenteuer falsch, Herr Brutkowski.“ Woher kannte sie seinen Nachnamen? „Folgen Sie mir einfach und ich verspreche Ihnen, Sie werden es nicht bereuen.“ Die Frau drehte sich um und verließ das Café.
Perplex blieb Nils zurück. Eindeutig, an ihr konnte etwas nicht stimmen.
Trotzdem floss Adrenalin literweise durch seine Adern, wie er es kaum zuvor erlebt hatte. Er legte ein paar Münzen auf den Tisch und folgte ihr schleunigst.
Vor dem Café schaute er links und rechts die Straße runter. Es herrschte ein geschäftliches Treiben, aber Allie war nicht zu sehen. „Verdammt“, murmelte er.
„Erste Lehre“, ertönte ihre Stimme sanft und hart zugleich. Er drehte sich um sich selbst, ohne jemanden zu entdecken. „Menschen schauen viel zu selten hoch. Begehen Sie nicht den gleichen Fehler.“ Nils’ Blick schnellte in Richtung Himmel und einen halben Meter über seinem Kopf stand Allie auf dem gläsernen Vordach des Cafés. „Na los, kommen Sie rauf.“
„Wie soll ich das bitte schaffen?“
Allie macht erneut Anstalten, allein weiterzugehen. Nur dieses Mal über die Fensterbretter nach oben. „Keine Sorge. Sie können alles schaffen.“
Da ihm schon beim Anblick schwindelig wurde, bezweifelte er das. Aber vielleicht … ja, vielleicht war in dieser Stadt tatsächlich alles möglich. Seit er in sein Apartment eingezogen war, war er schließlich nie auf Abenteuerjagd gegangen. Er saß im Café, ging ins Freibad, aß Eis — das ganz gewöhnliche Leben halt. Doch offensichtlich gab es Dinge, die über das Gewöhnliche hinausgingen und wegen denen er so viel Fantastisches über diesen Ort gehört hatte. Dies könnte das Ende seiner Langeweile sein. Mit neuem Mut nahm er Anlauf, rannte auf das Vordach zu und sprang. Seine Fingerkuppen streiften den Metallrahmen, bevor er abrutschte und mit voller Wucht auf den Boden knallte. Über sich konnte er sie seufzen hören. Mühsam stemmte er sich hoch. Seine Jogginghose war aufgescheuert und das Knie darunter blutete.
„Sie scheinen sich wie Superman zu fühlen“, sagte Allie. „Warum nehmen Sie nicht die Leiter?“
Leiter? Tatsächlich, direkt neben dem Vordach lehnte eine Leiter.
„Zweite Lehre: Auch wenn es häufig schwierig wird, sollte man sich stets einen Moment nehmen und den Weg des geringsten Widerstandes suchen.“
Ihre Lektionen gingen ihm bereits auf die Nerven, aber wenn er das für einen Adrenalinschub in Kauf nehmen musste, tat er es gerne. Er ignorierte sein schmerzendes Knie und erklomm die Leiter. Auf dem Vordach angekommen, schaute er hoch zu Allie, die auf einem Fenstersims des zweiten Stocks saß und die Beine baumeln ließ. Ein Schauer rann ihm über den Rücken. „Gibt es dafür auch eine Leiter?“
„Nö. Na los, kommen Sie, wir haben nicht ewig Zeit.“ Sie sprang in eine stehende Position. Auf dem nassen Fenstersims. Mit hohen Schuhen. Wow!
Er schüttelte die Hände aus, trat dann an den ersten Sims heran und zog sich mit Mühe und Not hoch. Während Allie mit Leichtigkeit immer höher kletterte, gab Nils alles, um nicht wie eine Melone herunterzustürzen und zu zerbrechen. Er schaffte es, sich bis zum dritten Sims hochzuarbeiten. Als er dort ankam, beschwerte Allie sich nicht über sein Gestöhne, sondern sagte: „Sehen Sie, Sie können alles schaffen.“
Er lächelte und da er nicht nach unten schauen wollte, blickte er stattdessen nach oben. Er zog eine Grimasse. „Wollen wir da ganz rauf?“ Er zählte eins, zwei, drei, vier Fensterreihen, bis das Gebäude endete.
Aber Allie antwortete nicht. Stattdessen vernahm er eine andere Stimme. Laut, tief und … unpassend. „Nils?“, fragte jemand. Die Stimme kam ihm bekannt vor, aber hier war niemand außer ihnen beiden. In der Entfernung suchte er die engen Straßen und Gassen ab, in denen sich plötzlich nichts mehr bewegte.
„Nils? Hier ist jemand für dich“, wiederholte die Stimme und eine ihm vertraute, weibliche kam hinzu: „Er soll sofort aufhören. Das ist doch nicht zu fassen!“
Erst da dämmerte es ihm. Fluchend stemmte er die Hände in die Hüfte und antwortete: „Ja?“
Scheinwerfer erhellten den Raum und ließen die Stadt, das Gebäude des Cafés und den Fenstersims, auf dem er gerade noch gesessen hatte, verschwinden. Alles wurde durch riesige Bildschirmflächen ersetzt. Nur Allie stand noch neben ihm. Ihm surrte der Kopf und ein bisschen übel war ihm auch. Kein Wunder, wenn er so plötzlich aus dem Spiel gerissen wurde. Im Spiel konnte er sich stets in die fremde Welt fallen lassen, sodass die Realität unendlich weit entfernt wirkte. Allie zwinkerte mehrmals und blickte verwirrt im kleinen Raum umher, in dem sie sich jetzt befanden. Obwohl sie der Hauptcharakter des Spiels war, endete ihre Existenz nicht mit dem Ende der generierten Welt. Sie war mehr als ein Handlungsstrang.
„Lass sie rein“, sagte Nils und augenblicklich wurde die Eingangstür aufgerissen. Eine Frau Ende vierzig stampfte hinein.
„Mama“, begrüßte er sie und sein Tonfall bewies, wie wenig er sie hier haben wollte.
Neben ihm murmelte Allie: „Bei meinem heiligen Eid, was ist dieser Ort?“ Sie tastete nach einer Waffe, die nicht mehr existierte.
„Du warst hier schon hunderte Male. Du erinnerst dich bloß nicht mehr.“ Nils hätte es ihr gern genauer erklärt, aber seine Mutter begann bereits zu meckern: „Dein Klassenlehrer hat mich heute angerufen. Da du jetzt seit einer Woche nicht mehr in der Schule warst, wollte er fragen, ob du zur Deutscharbeit kommst. ‚Er ist nicht in der Schule?‘, habe ich gefragt, wie eine dumme, leichtgläubige Mutter. ‚Seine Freunde sagten, er habe eine ganz grässliche Grippe.‘ Ich soll dir gute Besserung ausrichten.“ Sie baute sich vor ihm auf und erwartete eine Erklärung. Dabei wussten beide, dass es keine gab.
„Tut mir leid?“, sagte Nils, als wäre es eine Frage. Er wollte seine Mutter schnellstmöglich loswerden, damit er zurück in World Revolution konnte.
„Lass die halbherzigen Entschuldigungen. Du kommst jetzt mit mir nach Hause, arbeitest die Schulsachen nach und hörst auf, dich hier drin vor dem richtigen Leben zu verstecken!“
Es schien eine längere Diskussion zu werden.
„Du kannst mir nicht vorschreiben, was ich zu tun oder zu lassen habe. Ich bin 18.“ Vor gut zwei Wochen war er endlich volljährig geworden. Zuvor hatte seine Mutter Spiele wie World Revolution, geprägt von menschenähnlichen Robotern, die in fremde, bessere Welten entführten, verboten. Jetzt durfte sie das nicht mehr, ein Zustand, den Nils schamlos ausnutzte. Er hatte immer den Schwärmereien seiner Freunde zuhören müssen und nun, endlich, konnte er ihre Begeisterung nachvollziehen. Während die Realität schmerzhaft und öde war, konnte man im Spiel stets ein Abenteuer finden, aber anders als in den Spielen, die er vorher am Computer gespielt hatte. Denn World Revolution war von jeglichen Einschränkungen befreit, die Charaktere darin waren echt und alles war angepasst an seine Emotionen. Wie auch der Donner, der gerade wieder ertönte, nur dieses Mal verstand Nils, dass es eigentlich das Grollen seines Magens war. Plötzlich fiel ihm auf, dass er sich vor Hunger ganz schwach fühlte. Seine Kehle war staubtrocken. War es nicht erst einige Stunden her, seit er mit dem Spielen begonnen hatte? Heute hatte er sich acht Stunden Spielzeit gekauft. Er verlor so schnell das Zeitgefühl …
„Spielleiter, öffne bitte ein Fenster“, rief seine Mutter. Einer der Bildschirme klappte ein und gab den Blick nach draußen frei. Nils hörte Allie nach Luft schnappen.
Seine Mutter deutete hinaus und brüllte beinahe: „Siehst du das? Das ist das wahre Leben! Dort draußen.“
Er schlurfte ans Fenster. Unter ihnen lief eine Gruppe gackernder Mädchen an der Shoppingmall entlang, während ihre Hausroboter die Einkäufe transportierten. Beim Eisstand gegenüber schleckten Alt und Jung an verschiedenen Geschmacksrichtungen. Es war das alltägliche Treiben. „Ich entdecke nichts Begehrenswertes.“
„Das kannst du nicht ernst meinen. Dies ist unsere Welt. Es ist verrückt, sich in anderen Welten zu verstecken, wird dir das nicht klar?“ In ihrer Stimme hörte er, dass er ihren Stolz verletzt hatte. Sehr gut, vielleicht würde sie dann gehen.
„Liest du nicht immer in diesen Büchern und sagst, die dortigen Welten wären dein Rückzugort?“
Sie schüttelte den Kopf. „Das ist etwas vollkommen anderes.“
„Was soll daran anders sein?“
„Schon allein die Figuren. Ich behandle sie nicht, als wären sie real.“
Nils betrachtete Allie. Faszination war ihr ins Gesicht geschrieben, genauso wie tiefste Panik. „Die Menschheit hat schon vor Jahrzehnten begonnen, Personen durch intelligente Technik zu ersetzen“, begann er. „In dem, was ich hier mache, ist die Technik so perfektioniert, dass sie nicht mehr vom Menschen unterscheidbar ist, höchstens darin, dass sie nicht so eintönig ist. Warum sollte Allie weniger real sein?“ Er ging zu ihr und lächelte.
„Warum zweifeln Sie an meiner Realität?“, raunte Allie. Sie zitterte, aber bevor er sie beruhigen konnte, sagte seine Mutter: „Sie besteht aus Kabeln, nicht aus Blut.“
„Na und? Sie ist mehr als ein Programm, denn sie entscheidet sich dafür, die Sätze zu sagen, die sie sagt. Sie entscheidet. Nur manche Entscheidungen, zum Beispiel diesen Raum zu verlassen, kann sie nicht treffen.“
„Ich dachte, ich hätte dich weniger naiv erzogen, aber du hältst sie tatsächlich für ein Lebewesen. Soll ich dir den Unterschied zeigen?“ Seine Mutter lief zu Allie, packte sie am Arm und zerrte sie herum. Sie beschwerte sich lautstark, bis sie plötzlich schwieg und in ihrer Bewegung erstarrte.
„Sie haben einen Ausschalter. Merkst du nicht, dass sie nur ein Scheinleben führen, dass man ihnen mit einem Knopfdruck nehmen kann?“
Nils belegte seine Mutter mit einem wütenden Blick. „Menschen kann man auch ausschalten. Der einzige Unterschied ist, dass unsere Ausschaltung ewig ist, weil wir dann tot sind.“
„Du weigerst dich, mich zu verstehen, oder? In nicht allzu ferner Zukunft wird das hier über dir zusammenbrechen, weil es nicht real ist.“
Was war schon real? Wenn sie es ausprobieren würde, würde sie merken, dass die Roboter keine einseitigen Programme waren. Ohne diese Erkenntnis wird sie diejenige sein, deren Welt über ihr zusammenbricht. Schon jetzt waren künstliche Intelligenzen ein notwendiger Bestandteil im beruflichen und privaten Leben. Nils war sich sicher, dass bald Wesen wie Allie auch in der alten Welt leben würden. Bis dahin würde er die neue Welt bevorzugen.
„Du darfst jetzt gehen, Mama. Ich brauche dich nicht.“
Er sah Tränen in ihren Augen glitzern, bevor sie sich umdrehte und ihn endlich allein ließ.
„Fahr den Server hoch.“ Nils ignorierte seinen Hunger, den Durst und den Schlafmangel. Stattdessen schaltet er Allie wieder ein. Im Spiel vergaß sie, was in der Realität passiert war.
„Kein Sorge, wir sind angekommen.“ Allies Stimme durchfloss ihn wie ein Lied, von dem er zehrte. Beim Blick nach unten wurde ihm schwindelig. Er war wieder auf dem Fenstersims im 3. Stock angekommen. „Das ist unser Ziel?“, fragte er.
Allie gab dem Fenster neben sich einen Stoß und es flog auf. Ein großer, geschmückter Raum, gefüllt mit zahlreichen festlich gekleideten Menschen lag dahinter. „Das ist unser Ziel“, meinte sie und beide kletterten hinein. Das Abenteuer war nun zum Greifen nah und ließ Nils die Begegnung mit seiner Mutter vergessen. Es ließ ihn sogar ganz seine Mutter vergessen. Hier war er jemand anderes. Jemand, der alles schaffen konnte.
„Sir.“ Ein Mann im Smoking kam zu ihm und reichte ihm einen Brief.
„Für mich?“, murmelte er, aber der Mann war bereits in der Menge untergetaucht. N. Brutkowski stand in fremder Handschrift darauf. Kurz saugte er den Duft ein, von einer Welt, die darauf wartete, erkundet zu werden, von fremden Menschen, die Geheimnisse verbargen und einer Mission, die für ihn bestimmt schien. So gut hatte er sich nie zuvor gefühlt.

Autorin / Autor: Lena Grundmann