Werkstatt im Garten Eden

Von Sonja E., 16 Jahre

Es waren blaue Augen, die mich anstarrten. Sie waren wie kleine Seen, tief und dunkel, mit tausend kleinen Lichtreflexen, die sich wie Sterne in ihnen spiegelten. Ein Universum voller Möglichkeiten.
„Okay, danke“, sagte ich, „herunterfahren.“
Die Androidin lächelte mich an, und dann lösten sich ihre Gesichtszüge. Ihre Augen schlossen sich. Ihre Lider zuckten einmal, wie bei einem Traum, dann stand sie still.
Die Werkstatt war riesig, fast wie eine Tiefgarage, jedoch standen an den Seiten keine Autos sondern Roboter, und überall waren scheinbar wahllos verteilte Tische, überfüllt mit Werkzeug, Antrieben, Mikrochips und Metallplatten. 
Der Geruch nach Maschinenöl ließ die Luft schwer werden und kreierte eine stickige, dumpfe Atmosphäre. Allein das Ticken der großen Uhr machte mir Hoffnung. Auch ich brauchte meinen Feierabend.

Nicht, dass ich nicht schon viel früher hätte gehen können! So wie die Anderen, die sich pünktlich um Sechs von mir verabschiedet hatten, einer schadenfroher als der Nächste.
Jetzt waren sie alle weg, und nur die Maschinen leisteten mir Gesellschaft.
Aneinandergereiht wie Zinnfiguren standen sie da, die Haare glänzend im spärlichen Licht der Deckenlampe.
Wie in sämtlichen Filmen, die mit dem Gedanken an Androiden spielten, dachte ich und nahm einen Teppichschneider vom Tisch. In solchen Filmen wäre der Mensch jetzt tot, Kehle durchtrennt von einem Roboter im Streben nach der Weltherrschaft.

Ich seufzte und schwang meinen Stuhl zur Seite. Seine Beine knarrten unangenehm auf dem dreckigen Boden. Das gehörte, zusammen mit dem mittlerweile antiken Geräusch von Kreide auf der Tafel, zu meinen absoluten Hassgeräuschen. Ich verzog das Gesicht. Kreide auf der Tafel! Gut, dass sie das durch die Whiteboards ersetzt hatten.
„Wird es wehtun?“
Ich zuckte vor Schreck zusammen, und das Teppichmesser landete mit einem lauten Klirren auf dem Boden. Ich hatte das Mädchen ganz vergessen.
Sie stand vor mir und neigte den Kopf auf die Seite. Ihre Augen schimmerten in einem beinahe nervösen Glanz. Ihre langen, schwarzen Haare fielen in sanften Wellen über ihre Schultern. Ihre Stimme war kindlich, fast ängstlich.
Ich atmete tief durch, hob den Schneider wieder auf und klopfte dann mit der Hand auf den Tisch.
„Du wirst gar nichts spüren“, sagte ich. Ich hatte nicht erwartet, dass sie mit mir redete. Als sie die anderen Male hier gewesen war, hatte sie nur dagesessen und ab und an eine leise Melodie gesummt.
Auch jetzt begann sie wieder leise vor sich hinzusingen, wie um sich selbst zu beruhigen.
In mir kam eine Erinnerung hoch, an Weihnachten, an die Musik, die aus der Anlage gedrungen war und zusammen mit dem Duft nach Zimt und heißem Wachs den Raum erfüllte.
Ich rollte den Ärmel ihres Hemdes hoch.

„Können Roboter Schmerzen empfinden?“, hatte mein Bruder gefragt.
Ich hatte geschnaubt. „Nein.“
Als ich das Messer an ihre Haut ansetzte, zuckte ein Finger des Mädchens.
Ich drückte nach unten und begann, in den Roboterarm zu schneiden.
„Aber was, wenn sie uns angreifen?“, hatte mein kleiner Cousin dazwischen gerufen. Er war frisch in seiner Superheldenphase, weshalb der Gedanke ihn sichtlich begeisterte. „Dann müssen wir uns gegen sie verteidigen!“
Und er machte eine Kampfbewegung nach vorn und kippte die Soße des Weihnachtsbratens um.

Eine dunkle, schleimige Flüssigkeit drang aus ihrem Arm.
„Ihr müsst euch nicht gegen sie verteidigen“, hatte ich geseufzt. „Ihr könnt die Roboter einfach ausschalten.“
Aber das war ihnen zu langweilig und so hörten sie auf, mir zuzuhören.
Früher hatte es noch einen Knopf gegeben, mit dem man das Betriebssystem der Roboter herunterfahren konnte, mittlerweile ging es mit einfachen Worten.
Die Hand des Mädchens lag ganz still.
„Verbessern Sie sie“, hatte der Mann gesagt. „Ihre Reaktionszeiten sind nicht gut genug.“
Kunden waren kaum jemals freundlich. Vielleicht lag das daran, dass wir für sie kaum Menschen waren – zu Maschinen sagte auch nie jemand Bitte oder Danke, außer meiner Oma vielleicht, doch meine Oma war etwas anderes.
Kann gut sein, dass die Kunden jeden Mitarbeiter für Roboter gehalten hatten.
Der Mann war schon öfter mit dem Mädchen hier gewesen. Er wollte sie besser machen als einen einfachen Humanoiden. Er wollte sie in einen Androiden verwandeln, in die neueste und beste Marke, die durch eine tiefblaue Iris gekennzeichnet war.

Zunächst aber sollte sie kräftiger werden, und so hatten sie ihr den Arm abgenommen und durch den eines Androiden ersetzt.
Offenbar war dabei etwas schief gegangen.
Unter der Haut des Mädchens war ein Wirrwarr aus Drähten und Gewinden, die mich stets an die Adern und Muskeln des Menschen erinnerten. Es war, als hätte sich ein Bildhauer für sein Werk ein bereits existierendes Gebilde geschnappt und eins zu eins nachgebaut, nur mit unterschiedlichen Materialien.
Ein Draht war verdreht. Ich griff nach der Zange.
Die Haare von Androiden waren echt, ihr Körper eins zu eins dem Menschlichen nachgeahmt. Sie hatten eine dünne Haut mit flexiblen Sensoren, die nicht nur aussahen wie menschliche Haut, sondern auch wesentlich effektiver war, außerdem gegen Umwelteinflüsse resistent und unfassbar reaktionsfähig.

Manchen Neuankömmlingen machte der Gedanke Angst, dass vor ihnen ein Wesen stand, welches aussah wie sie, aber weder ihre Gefühle noch Gedanken hatte, ja überhaupt keine Gefühle oder Gedanken empfand.
Ich wusste, dass das nicht stimmte. Androiden hatten Kindheitserinnerungen, genauso wie jeder Mensch.
Machte es wirklich einen Unterschied, ob die Erinnerungen echt waren, oder nicht?
Der verbogene Draht war mit einem anderen verfangen. Es erinnerte an Kopfhörerkabel, die ineinander verworren waren.
Warum stellten die Menschen überhaupt Maschinen her, die beinahe wie sie waren?
Die Frage wurde oft gestellt und ich antwortete immer gleich.
Sie waren multifunktionale Helfer in jeglichen Alltagssituationen. Sie waren Pflegepersonal, sie waren Unterhaltung.
Sie ersparten Zeit und Mühe, sie übernahmen klaglos Aufgaben, die den Menschen zu niedrig, zu lästig oder zu schmutzig waren, sie rechneten, pflegten, halfen, wo immer sie konnten.
Sie spürten keine Schmerzen.

Das Mädchen regte sich ein wenig. Ihre Finger griffen auf und wieder zu, als wollte sie ihre Reflexe testen.
Durch das Erforschen von Robotern erforschte die Menschheit immer mehr sich selbst. Wo waren die Grenzen? Was unterschied den Menschen letztendlich wirklich von den Maschinen? Welche Materialien hätte der Bildhauer gebraucht?
Die Intelligenz war es nicht. Roboter, die sich alles merken konnten, waren intelligenter als die meisten Menschen, konnten Aufgaben schneller lösen als die besten Mathematiker.
Empathie? Gefühle? Die Seele? Irgendetwas musste es sein.
Früher hatte es geheißen, Roboter könnten nichts, was ihnen nicht einprogrammiert wurde, aber mit den selbstlernenden Maschinen hatte sich das dann auch geändert.
Ich erwischte den Draht und bog ihn mit einem reißenden Geräusch zurück.
Erst jetzt fiel mir auf, dass ihr Summen verstummt war.
Ich blickte zu ihr auf und erkannte das Schimmern in ihren Augen.
Eine Träne rann die rosige Wange des Mädchens hinunter und tropfte auf das Messer.
Ich starrte sie an.

„Warum macht er das?“, wisperte sie. Ihre Lippen zitterten und weitere Tränen lösten sich aus ihren braunen Augen, als sie ihre Arme um den kleinen Körper schlang. „Bin ich nicht gut genug?“
Warum machte er das? Es war derselbe Grund, warum die Menschen überhaupt Roboter erschaffen, das wusste ich, der allerletzte Grund.
Ich legte zögerlich meine Hand auf ihre. Ihr linker Arm war noch ihr eigener. Er war deutlich rosiger und wärmer als der andere.
Noch konnte die Technik nicht ganz und gar die Farbe der Haut nachahmen, wenn Blut durch sie pulsierte.
Ich schenkte ihr ein sanftes Lächeln.
„Dein Vater will nur, dass du so stark wirst wie ein Androide“, sagte ich.
Als ihr Vater sie abholte und ich den Raum für morgen aufräumte, empfand ich Mitgefühl mit diesen Menschen.
Ich blickte in die Werkstatt hinein, auf die einfachen humanoiden Roboter, die immer noch starr nebeneinander standen und nur darauf warteten, zu dienen.
Und dann sah ich mein Gesicht im Spiegel, mit der tiefblauen Iris, und dachte:
Letztendlich wollten die Menschen auch nur wissen, wie es ist, Gott zu sein.

Autorin / Autor: Sonja E.