Vision von einem Reagenzglasabfallkind

Einsendung zum Schreibwettbewerb Dr. Futura im Wissenschaftsjahr Gesundheitsforschung

Am Anfang war das Wort. Und das Wort war bei ihm, und er war das Wort.

Und als ich meine Augen öffnen konnte, da sah ich nichts als dieses Weiß und das Weiß wurde zu einem Gesicht. Er sah mich an und grinste, er hatte Bartstoppeln im Gesicht und sah mich an, als würde er auf eine Antwort warten.
Er hatte gefragt, mich gefragt. Aber ich wusste nicht was. Ich hielt mich an seinem Lächeln fest, wo alles um seinen Kopf verschwommen war. Und dann verschluckte mich wieder das tiefe Loch und ich hörte auf zu denken.
Als ich das zweite Mal wach wurde war niemand da und ich konnte meine Augen vorsichtig bewegen, ohne dass mich der Schwindel ergriff. Aber mehr als die weiße Decke konnte ich nicht sehen.
Ich musste wieder geschlafen haben, denn da war sein Gesicht wieder und dieses Mal konnte ich seine Worte verstehen. „Du bist wach.“

Am Anfang schuf er Raum und Materie. Und die Materie war weiß und leer, und es war finster auf der Tiefe; und sein Gesicht schwebte über allem. Und er sprach: Du bist wach! Und ich war wach. Und er sah, dass ich wach war. Da zeigte er mir den Raum und die Materie und nannte sie Valetudinarium. Der erste Tag.

Am Anfang verstand ich gar nichts. Ich schlief und wurde gefüttert und döste. Ab und an wurde ich ins Bad gebracht oder gewaschen. Irgendwann war er wieder da und redete mit mir und ich verstand nichts, aber hing an seinen Lippen. Und dann kam die Verlegung.

Und er sprach: Es werde ein Unterschied zwischen ihr und den Neuen, und die sei eine Verlegung zu den Patienten. Da machte er den Unterschied und verlegte mich zu den Patienten. Und es geschah also. Und er nannte die Neuen Ankömmlinge und die Patienten die Ewigen. Da ward ein neuer Tag.

Die neuen Tage waren klar strukturiert. Wir mussten aufstehen, wenn der Gong ertönte, unsere Betten machen, ins Bad. Frühstücken, in den Gemeinschaftsraum.
Es gab diese Frauen in weißen Kitteln, die uns betreuten. Wir waren willenlos, wir taten, was wir sollten. In dem Gemeinschaftsraum waren Tische und Stühle und Sofas. Es gab Spielzeug und Stifte und Papier und wir spielten, aber es war so leise und ich merkte nicht, dass das alles komisch war, weil ich willenlos war wie alle anderen.
Mittagessen, Gemeinschaftsraum. Aufräumen. Abendessen. Bad. Schlafen.
Manchmal wurden wir untersucht und manchmal wurde jemand abgeholt und tauchte nicht mehr wieder auf. Aber das machte niemandem etwas aus.

Wir waren etwa 20 Kinder in unserem Gemeinschaftsraum, aber es gab noch mehr. Viele von uns waren behindert und mussten betreut werden. Aber niemand nahm Anstand daran. Es war egal. Unser ganzes Leben lag im Nebel.
Bis zu dem einen Tag, an dem eine Frau in weißem Kittel neu im Gemeinschaftsraum war und als sie mich sah, da rief sie „Um Gottes Willen!“ Sie rief es nicht laut, aber auf einmal waren da so viele Worte in meinem Kopf. …Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot…
Diese Worte waren auf einmal in meinem Kopf statt der schweren Leere und ich musste ein Blatt Papier nehmen und einen Stift und ich malte Zeichen auf das Blatt und ich schrieb ohne zu wissen, was meine Finger da taten, weil ich nicht wusste, dass ich schreiben konnte und was schreiben war.

Am Ende stand da:
Vater unser im Himmel,
geheiligt werde Dein Name.
Dein Reich komme,
Dein Wille geschehe,
wie im Himmel, so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse und von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und  die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Amen.

Und ich konnte nicht verstehen, was das für Worte in meinem Kopf waren. Ich versuchte mich zu erinnern; da musste etwas sein, aber mein Kopf war voll mit der Watte, die im Puppenhaus in den Puppenbetten lag.
Ich versuchte mich zu erinnern, aber da war nichts. Ich hatte den Stift noch in der Hand und ich malte Kreise und Kringel auf ein Blatt ohne den Stift abzusetzen und schaute nicht hoch.
Die Neue stand hinter mir und sprach mit ihrer Kollegin. Ich hörte nicht zu, aber dann rissen mich wieder diese Worte aus der Trance.

„…Gottes Willen! Musste das denn sein? Dieses Mädchen ist doch perfekt, kein Makel!“
„Ich weiß. Aber ihre sozialen Eltern waren streng gläubig und sie hat sich gewehrt und den Glauben völlig abgelehnt. Ein Fehlprodukt, in Erfurt erzeugt. Es ist gut, dass sie die Klinik dort mittlerweile geschlossen haben, das hat vielen künftigen Eltern großen Schmerz erspart.“

Ich wollte den Nebel in meinem Kopf durchdringen, aber ich hatte keine Worte und dann fand ich sie langsam doch. Ich begann wieder zu schreiben:
Am Anfang war das Wort. Und das Wort war bei ihm, und er war das Wort.
Am Anfang schuf er Raum und Materie. Und die Materie war weiß und leer, und es war finster auf der Tiefe; und sein Gesicht schwebte über allem. Und er sprach: Du bist wach! Und ich war wach. Und er sah, dass ich wach war. Da zeigte er mir den Raum und die Materie und nannte sie Valetudinarium. Der erste Tag.
Und er sprach: Es werde ein Unterschied zwischen ihr und den Neuen, und die sei eine Verlegung zu den Patienten. Da machte er den Unterschied und verlegte mich zu den Patienten. Und es geschah also. Und er nannte die Neuen Ankömmlinge und die Patienten die Ewigen. Da ward ein neuer Tag.

Und als sie sahen, was ich schrieb, da holten sie ihn wieder und er sah mich an und ich hatte keine Worte mehr, weil sie mich spritzten und da war immer mehr Watte in meinem Kopf und ich wurde wieder Advenae, weil sie Angst hatten, dass ich stärker war als ihre Medikamente.
Ich sah sein lächelndes Gesicht wieder und dachte „…geheiligt werde sein Name,… sein Wille geschehe…“

Es gab sie, diese Problemkinder- Fehler im System- und sie mussten irgendwie beseitigt werden. Wir waren die ungeliebten Kinder, die von ihren leiblichen oder sozialen Eltern abgeschoben wurden. Wenn sie keine Lust mehr auf Kinder hatten und niemand anders uns adoptieren wollte. Oder wenn wir Fehler hatten. Es war kein Platz für Fehler.

Das Valetudinarium war da für uns. Damit wir aus der heilen Welt geschafft wurden.

Autorin / Autor: von islenski.hesturinn, 19 Jahre