Verschwommene Grenzen

Von Paulina Radwan, 14 Jahre

„Warum hast du deine Klassenkameradin so heftig geschlagen, dass ihr das Blut aus der Nase lief?“
Schweigend verschränkt sie die Arme vor der Brust.
„Du kannst von der Schule verwiesen werden, wenn du uns das nicht erklärst.“
Er wartet auf eine Antwort. Sie schweigt.
„Ich kann dein Handeln in keinster Weise nachvollziehen, du hast falsch gehandelt, so hat man es Dir nicht beigebracht. Ich möchte, dass du mir die Situation erklärst. Du kommst eh nicht darum herum, in einer halben Stunde treffen wir uns mit dem Rektor und dann wird entschieden, welche Konsequenzen dein Handeln hat.“
Der Lehrer rückt seinen Stuhl zurecht und schaut fordernd, fast drohend, auf das kleine Mädchen herab.
„Ich kann es nicht beschreiben. Ich bin so wütend über sie gewesen, es kam einfach aus mir heraus. “
Beschämt guckt sie auf ihre Schuhe. 
„Bitte erklär es mir so, dass ich weiß, um wen und um was es geht. Sehe ich vielleicht so aus, als könnte ich deine Gedanken lesen?“
Sie zuckt mit den Schultern. Die Tränen steigen ihr in die Augen.
„Sie hat meinen kleinen Bruder beleidigt. Sie sagte zu ihm Blechbüchse und er sei unfähig jemals ein Mensch zu sein, dann bin ich wütend geworden. Ich musste mir solche Kommentare schon zu lange anhören und nicht nur von meinen Klassenkameraden. Ich spüre jeden abfälligen Blick der Menschen um uns herum und heute hat sie es dann auf die Spitze getrieben.“
„Bruder? Du hast keinen Bruder. Was soll das?“
„Sie wissen, wen ich meine.“
„Findest du es nicht ein bisschen übertrieben einen Humanoiden, der dir als Spielkamerad dient, Bruder zu nennen?“
Sie zuckt zusammen und fängt fast an zu schreien, die Tränen rinnen ihr über die Wangen wie das Wasser die Straße nach einem Unwetter.
„Selbst Sie haben kein Verständnis? Das nenne ich Ironie. Ich verbringe fast jede freie Minute mit ihm. Er ist für mich Familie und das wird sich auch nie ändern, egal was Sie oder die anderen Menschen sagen.“
Sie macht eine lange Pause und seufzt.
„Ich verstehe es einfach nicht. Zuerst erfinden die Menschen Roboter und künstliche Intelligenzen, dann sorgen sie dafür, dass sie wie Menschen aussehen, setzen sie ein, benutzen sie. Dann werden sie nicht akzeptiert, als würden sich die Menschen wünschen, die Humanoiden niemals erfunden zu haben.“
Verständnislos blickt er sie mit seinen kalten grauen Augen an.
„Du meinst also, deine Klassenkameradin hat ihn aus Angst beleidigt?“
Sie wischt sich eine Träne von der Wange und nickt.
„Aber wenn es doch gar nicht um dich geht und dein sogenannter Bruder nicht dabei ist, musst du doch nicht schlagen.“
Sie schweigen. 
„Heutzutage werden überall Algorithmen oder Humanoiden eingesetzt, das hast du schon ganz richtig gesagt. Sie dienen nicht nur als Spielkamerad und Aufpasser für euch Kinder sondern sie erleichtern den Menschen ihre Arbeit. Wenn du anfängst, Gefühle für diese Künstlichen Intelligenzen zu entwickeln, dann geht das nicht gut aus. Würdest du dich denn wenigstens bei ihr entschuldigen, wenn es stimmt, dass sie lediglich Angst vor deinem sogenannten Bruder hatte?“
„Nein, das ist für mich kein Grund jemanden zu beleidigen.“
Entschlossen steht sie auf.
„Ich werde mich niemals entschuldigen und meinetwegen können Sie mich gerne von der Schule verweisen.“

Krachend fällt die Türe hinter ihr ins Schloss.  Als sie über den Schulhof läuft, sieht sie die dunkelroten Blutflecken auf dem Boden und ihr Gesicht verdunkelt sich. Sie setzt sich auf die große Mauer am Rande des Schulhofs neben ihren Bruder, der auf sie gewartet hat.
„Wie lief es?“
Sie schluchzt.
„Ich weiß es nicht. Ich habe einfach nur Angst. Gleich werde ich erklären müssen, was ich getan habe, aber ich glaube nicht, dass sie mich verstehen werden. Ich bin einfach nicht in der Lage, mein Handeln zu erklären, da ich es selbst nicht mal verstehe.“
Er legt ihr freundschaftlich seine Hand aufs Knie.
„Du hast es für mich getan, oder?“
„Darf ich dich mal etwas fragen?“
„Ja natürlich.“
„Würdest du mich ebenfalls verteidigen, wenn mich jemand beleidigt?“ fragt sie.
Er legt den Kopf schief.
„Nein, warum sollte ich das tun? Für mich gibt es keinen Grund jemand anderem Schaden zuzufügen.“
Sie überlegt. Dann schluckt sie wieder.
„Ich kann dir nicht helfen.“
„Ich weiß“, antwortet sie und springt von der Mauer.
„Ich muss sowieso los. Die Zeit ist um.“
Langsam geht sie in Richtung Haupteingang, wo sie der Lehrer in Empfang nimmt. Sie betreten gemeinsam das kleine Konferenzzimmer der Schule. In der Mitte steht ein Tisch wo der wartende Rektor mit der Klassenkameradin sitzt.
„Setzt euch“, begrüßt sie der Rektor.
Die angespannte Stimmung lässt den Raum für sie noch mehr wie ein Gerichtssaal erscheinen. Ihr Herz pocht so laut, dass sie Angst hat, die anderen könnten es hören.
„Bitte erkläre uns die Situation, ich möchte versuchen, dich zu verstehen, auch wenn mich dein Handeln enttäuscht.“
Er schaut fragend in ihr verängstigtes Gesicht.
„Ich bin so wütend geworden darüber, was sie gesagt hat, dass ich mich nicht mehr unter Kontrolle hatte und geschlagen habe.“
Der Rektor wendet sich ihrer Klassenkameradin zu.
„Was hast du denn Schlimmes gesagt, dass ihr euch fast geprügelt hättet?“
„Ich habe gesagt, dass ihr sogenannter Bruder niemals ein Mensch sein wird und sie endlich aufwachen soll. Sie soll kapieren, dass diese Blechbüchsen sogar gefährlich sind.“
Schweigend schaut der Rektor beide Mädchen an.
„Da dieser Fall für mich schwierig ist, interessiert mich Ihre Meinung ganz besonders. Wie beurteilen Sie als Klassenlehrer die Situation. Was ist Ihre Meinung?“
Der Lehrer räuspert sich.
„Ich kann nicht begreifen, wie man wegen eines so unverständlichen Grundes einen anderen Menschen ins Gesicht schlagen kann. Sie sagt, sie habe es getan, weil sie ihren angeblichen Bruder beschützen oder verteidigen wollte.“
Der Rektor unterbricht ihn.
„Stimmt es“, wendet er sich an sie, „dass du deinen Bruder verteidigt hast, obwohl er ein Humanoid ist?“
Sie nickt.
„Aber weißt du denn nicht, dass diese Roboter niemals ...“
Mit funkelnden Augen unterbricht sie ihren Rektor.
„Er ist kein Roboter, er ist mein Bruder. Er ist alles, was ich habe. Niemand akzeptiert ihn, von allen wird er beleidigt. Sie machen sich über ihn lustig. Das tut uns weh.“
„Euch?“
Ihre Wangen glühen vor Wut und Aufregung.
„Hast du viele Freunde?“, fragt der Rektor.
„Die brauche ich nicht, ich habe doch ihn.“
„Ich habe befürchtet, dass du das sagst“, antwortet der Rektor, „aber dein Klassenlehrer hat leider recht, er ist kein Mensch, er ist kein Bruder. Er ist ein Humanoid und somit nicht in der Lage Empathie zu empfinden. Ich werde deine Strafe auf Grund deiner verletzten Gefühle noch einmal überdenken. Du wirst nicht von der Schule verwiesen. Ich denke, wir werden eine andere Lösung finden.“

„Augenblick bitte.“
Der Klassenlehrer schaltet sich fragend ein.
„Es ist nicht konsequent, das unbestraft durchgehen zu lassen. Es ist unlogisch. Gewalt jeglicher Art ist falsch. Sie gehört konsequent bestraft. Was Sie machen wollen, ist genau das Gegenteil. Erklären Sie mir das bitte.“
„Ihre Meinung ist, denke ich, bei so einer Situation nicht relevant. Jemand wie Sie ist nicht in der Lage, über etwas zu urteilen, dass er selber nicht versteht. Zuerst dachte ich auch, es wäre sinnvoll Ihre Meinung zu haben, weil Sie uns schon so oft geholfen haben.“ 
„Aber rein logisch betrachtet ist es doch falsch, was Sie machen“, erwidert der Klassenlehrer.
Der Rektor rückt seine Brille zurecht und guckt dem Lehrer tief in die Augen.
„Ich verstehe es, wenn Sie sagen, dass mein Handel inkonsequent ist. Seitdem Humanoide zur Bewältigung des Lehrermangels an dieser Schule eingesetzt werden, haben Sie sich gut bewährt. Doch diese Situation verstehen Sie nicht. Nach der Sicht ihrer Künstlichen Intelligenz ist das Handeln dieser Schülerin falsch, aber unter uns Menschen gibt es auch noch eine andere Art von Intelligenz, sagen wir mal, eine andere Art der Logik. Ich spreche von emotionaler Intelligenz. Dieses Mädchen hat nach ihren Gefühlen gehandelt, aus ihrem Bauch heraus, ganz menschlich und nicht logisch. Rational falsch, emotional verständlich. Es ist nicht richtig, dass sie ihre Mitschülerin geschlagen hat, aber sie war verletzt. Gefühle dieser Art sind Humanoiden fremd, Sie werden es niemals verstehen. Und deswegen“, er wendet sich zu dem anderen Mädchen, „brauchst du auch keine Angst vor Robotern oder Künstlicher Intelligenzen zu haben. Ihre Algorithmen sind Rechenprozesse, darin sind sie uns überlegen, aber sie sind damit eben nicht schlauer. Das werden sie niemals sein, weil ihr etwas habt, was sie nicht haben: Gefühle. Das unterscheidet euch von Maschinen. Um gerecht zu sein, um ein Urteil zu fällen, brauchen wir die emotionale Intelligenz, die Empathie.“
Als der Rektor den Satz beendet hat, steht der humanoide Lehrer auf und geht zu Tür.
„Nun wie ich höre, werde ich hier nicht mehr gebraucht. Ich werde versuchen daraus zu lernen. Schönen Tag.“ Und bevor er die Türe schließt, fällt sein Blick nochmal auf das Mädchen und sie hat für einen kurzen Augenblick das Gefühl, dass seine kalten, emotionslosen Augen ihr viel Glück wünschen.

Autorin / Autor: Paulina Radwan