Perfect Little Human

Von Lara Schnisa, 21 Jahre

Jake Madden saß allein in seiner Hütte. Nicht das erste Mal, aber hoffentlich das letzte Mal.
Vor ihm auf dem Tisch lagen Mikrocontroller, Gleichstrom Motoren und Computerplatinen, verteilt zwischen Schrauben, Kabeln und unordentlichen Zeichnungen vom fertigen Produkt. Neben ihm lag ein Buch, die Seiten abgegriffen vom vielen Benutzen und schon seit Wochen nicht mehr benutzt. Das enthaltene Wissen hatte er schon längst im Kopf. Das häufige Lesen hatte dafür gesorgt, dass er den Inhalt auswendig konnte.

Er schloss das Kabel wieder an seinen PC an, in der Hoffnung das dieses Mal keine Fehlermeldung auftauchen würde. Sein Computer war nicht mehr der neuste, oft auseinander gebaut und wieder zusammengesetzt. Festplatten türmten sich neben dem Gehäuse und die Kabel, welche über die Jahre zu oft umgesteckt wurden, hingen teilweise lose aus dem Turm heraus. Viel gab Jake nicht mehr auf Ordnung. Hier draußen würde ihn keiner besuchen und sollte es doch jemand versuchen, dann würden sie nicht weit kommen.
Er öffnete ein kleines Fenster, das Bild übersäht von Textpassagen und Codes. Die Anspannung deutlich auf seinem Gesicht abzulesen, ließ er das Programm mit einem Klick laufen.
20%, 39%, 65%, 73%, 88%, [Das Programm konnte nicht ausgeführt werden]

Wütend riss er das Kabel vom Computer. Ein erneuter Fehlschlag. Der dritte in dieser Woche.
Jake stand auf, lief hinüber zu seiner Küchenzeile und goss sich ein Kaffee ein. Er murmelte vor sich hin; Wörter, die nach außen keinen Sinn ergaben und wahrscheinlich auch keinen hatten. Wenn man lange Zeit ohne menschliche Kontakte lebte, fing man irgendwann an mit sich selbst zu sprechen.
Man durfte es nicht falsch verstehen. Jake könnte mit Menschen in Kontakt treten, er könnte zurück in die Stadt ziehen, sich einen Job suchen und nicht jeden dritten Tag im Wald ein Tier erlegen, um Essen zu haben, aber das wollte er nicht. Die Menschen waren so unglaublich unperfekt. Er hasste sie.
Mütter, die ihre Kinder nicht in den Griff bekamen, Väter, die ihre Frauen nicht im Griff hatten und eine Gesellschaft, die Intelligenz als solche ablehnte und lieber einem System folgte, dass ihnen Schritt und Tritt vorgaben. Oh, wie sehr Jake sie alle verhasste.

Er zog das Messer wieder aus dem Tisch, welches er bei seinen Gedanken unbewusst in diesen gebohrt hatte und setzte sich stattdessen wieder an seinen Schreibtisch. 88% hatte er dieses Mal erreicht. Das war mehr als bei seinen vorherigen 274 versuchen. Er nahm den Marker vom Tisch und beugte sich zur Wand hinüber, zeichnete ein weiteren Strich auf die Wand, welche von roter Farbe übersäht war. Jeder Strich, ein Fehlschlag, aber auch ein Schritt weiter zum Erfolg.
Jake lehnte sich in seinem Stuhl zurück, steckte die Kappe auf den Marker und ließ seinen Blick von der Wand zu der Figur neben seinem Schreibtisch wandern.
Da stand sie, seine Page. Perfekte 160cm groß, braune Haare die in leichten Wellen über ihre Brust fielen, lange Beine und Augen in einem blau wie der Himmel bei Sonnenschein. Sie war perfekt für ihn. Wenn sie doch nur leben würde.

Er hatte sie geschaffen, noch bevor er irgendetwas über das Programmieren wusste. Ihre Haut aus Silikon, ihre Haare zusammengesetzt aus Echthaarperücken. Früher, bevor er realisiert hatte wie unperfekt die Menschen waren, hatte er in einer kleinen Puppenfabrik gearbeitet. Jede Puppe besser und realistischer als die vorherige. Sie waren perfekt auf einem Level, welches Menschen einfach nicht erreichen konnten. Mit 24 hatte er also die erste eigene Puppe zuhause. Er arbeitete konstant an ihr, nie wirklich zufrieden. Seine Puppen wurden größer mit der Zeit, realistischer, man konnte fast sagen, dass sie menschlicher wurden.
Und je besser seine Puppen wurden, desto größer wurde seine Abneigung gegenüber den echten Menschen. Er konnte seine Puppen auseinandernehmen und nichts passierte. Wenn er sie wieder zusammensteckte, dann war es als wäre nie etwas passiert. Er konnte sie anschreien und sie zuckten nicht, sie starrten ihn einfach aus ihren leeren Augen an und warteten bis er aufhörte.
Menschen jedoch waren ganz anders, sie hatten immer das Bedürfnis, besser zu sein. Er hatte nicht nur einmal versucht mit einem Menschen eine Beziehung einzugehen; jedes Mal eine Enttäuschung. Für Jake war schnell klar, dass er mehr brauchte. Er brauchte jemanden der nicht zuckte oder davonrannte, wenn er wütend wurde. Er brauchte jemanden den er auseinandernehmen konnte und wieder zusammensetzen konnte, mit neuen, perfektionierten Teilen.
Wenn er versuchte Menschen zu perfektionieren, dann waren sie am Ende nicht perfekt, sondern tot. Jakes Gedanken wanderten kurz zu den Menschen, die er auf dem Weg zu seiner Erkenntnis verloren hatte.

Zur Zeit seiner Ur-urgroßeltern war es noch anders gewesen. Er hätte sich wegen Mordes rechtfertigen müssen und wäre wahrscheinlich in einem Gefängnis gelandet. Aber heute machten ein paar Menschen keinen Unterschied mehr. Die Welt war überbevölkert und ein Rechtssystem gab es nicht mehr. Menschen arbeiteten oder klauten sich, was sie brauchten. Familien verkauften ihre Kinder, da diese mehr Geld brachten als die meisten Berufe einem Menschen im Jahr einbrachten und Frauen verliehen ihre Männer.
Auch das hatte sich geändert über die letzten Jahre. Die Männer hatten ihre Positionen verloren und die Frauen sorgten dafür, dass sie diese auch nicht wiederbekamen. Wenn man Jake fragte, dann hatten die Männer einfach verlernt Gewalt anzuwenden. Er war immerhin das lebende Beweismittel. All seine vergangenen Frauen hatten keine Chance gegen ihn.
Er lachte leise vor sich hin. Die Welt war widerlich und Menschen hatten den Drang verloren, sich zu perfektionieren, aber nicht er selbst.
Er baute seine Zusammensetzung wieder auseinander, entfernte seine Motoren von dem Mikrocontroller und schloss diesen erneut an, um das Programm zum 275 Mal zu überschreiben. Es war nicht so als hätte es noch nie funktioniert, nein, die Basics hatte er schon oft zum Laufen gebracht. Aber es war noch nicht perfekt und er wollte nichts unperfektes. Dann könnte er stattdessen auch wieder normale Kontakte pflegen.

Er dachte darüber nach, was er vergessen haben könnte. Sein Blick wanderte über das Bild, auf dem die vielen Zeilen mit den Wörtern gefüllt waren für dessen Erschaffung er Jahre gebraucht hatte. Jake überlegte ob er vielleicht vergessen hatte irgendwo ein Semikolon zu entfernen oder ob ein Befehl nicht am entsprechenden Programm ankam. Die Arbeit lief fast von allein, so oft hatte er diese Schritte schon getan.
Er arbeitet noch drei Stunden ohne Pause bis er das nächste Mal das Gefühl hatte, etwas erreicht zu haben. Er versuchte erneut das Programm zum Laufen zu bringen. Die Leiste auf dem Bildschirm füllte sich, langsam, aber stetig. Sie erreichte dieses Mal die 100 Prozent.
Zufrieden schloss Jake wieder die ganzen Motoren an den Controller an und setzte ihn der Puppe in die Klappe am Hinterkopf ein. Er entschloss er sich, aufgrund der Unsicherheit ob es dieses Mal funktionieren würde, den ersten Durchlauf erst abends durchzuführen. Stattdessen Griff er nach dem Gewehr an der Wand um sich sein Essen für die nächsten Tage erlegen.
Es dauerte nicht lange, bis er auf den Ästen eines Baumes einen Vogel entdeckte. Groß genug, um ihn für einige Tage durchbringen zu können.
Zufrieden mit seiner Ausbeute erschoss er diesen und brachte den toten Körper zurück zur Hütte. Er legte den Vogel auf den Tisch und rupfte diesem mit geübten Fingern kurz darauf alle unnötigen Dinge ab. Die Federn behielt er, wer wusste schon, wann er das nächste Mal ein neues Kissen brauchte.

Jake setzte Wasser auf und schmiss den Kadaver des Tieres in dieses hinein. Nun mit keiner Ausrede mehr, weshalb er Page noch nicht starten konnte. Er ging also hinüber zu dem Computer und gab den Befehl das Programm zu starten und den Computer in ihr hochzufahren. Er hatte kompletten Einfluss und vor allem Einblick auf ihr Handeln über seinen PC.
Page begann sich kurz nach der Aktivierung zu bewegen. Die Augen der Puppe bewegten sich hin und her, um den Raum zu scannen. Sie bewegte jegliche Gliedmaßen, um ein Gefühl für diese zu erlangen, erst noch sehr kleine und harte Bewegungen, die jedoch mit der Zeit realistischer wurden.
Jake war fasziniert, er hatte lange auf diesen Moment hingearbeitet und nun war er da. Die vorher unruhigen Augen seiner Erfindung stoppten bei ihm. “Guten Tag, möchten Sie mir einen Namen geben?” Ihre Stimme war noch genauso, wie er sie am Anfang programmiert hatte. Sie erinnerte ihn ein wenig an eine der Frauen, die er in der Vergangenheit getötet hatte. “Ja bitte. Dein Name ist Page,” ihr System gab ein Geräusch ab mit welchem angedeutet wurde, dass sie ihren Namen abgespeichert hatte. Er war ein wenig enttäuscht darüber, dass anscheinend die Programmierung nicht sofort erkannte, welchen Namen er ihr gegeben hatte. Wenn es aber weiterhin keine Fehler gab, könnte er darüber hinwegsehen, zumal es eine einmalige Einstellung war.
“Wie kann ich dir behilflich sein?” Sie bewegte sich von ihrem vorherigen Standort weg und richtete ihren ganzen Körper in seine Richtung aus, wahrscheinlich um zu verdeutlichen, dass er ihre volle Aufmerksamkeit hatte. “Hier sind ein paar Regeln: Du darfst dich frei bewegen, aber nicht weiter als 100 Meter von der Hütte entfernen, ohne dass ich Bescheid weiß. Hier muss aufgeräumt und gekocht werden, die Suppe für heute steht auf dem Feuer. Am wichtigsten aber: Was ich sage ist dein Gesetz.” Er sah wie das Programm auf dem Computer die Daten verarbeitete und einspeicherte. Page bewegte sich, nachdem keine weiteren Anweisungen mehr kamen Richtung Küchenzeile und begutachtet den Vogel im Topf. Auf dem Computer erschien eine Anzeige, welche Jake zeigte, dass sie aktuell nach Rezepten suchte.

Jake schloss kurz die Augen, ein zufriedenes Lächeln auf seinen Lippen. Das Gefühl, die volle Kontrolle zu besitzen, erfüllte ihn und es war gut.
Er schaltete das Programm aus und fuhr den PC herunter. Er wusste, dass wenn er sie kontrollieren wollte, er den PC einfach wieder anschalten konnte und das Wissen gefiel ihm. Er setzte sich auf das alte Sofa in der gegenüberliegenden Ecke des Raums. Seine Aufmerksamkeit auf die Puppe gerichtet, welche vor sich hinarbeitete.
“Guten Morgen. Heute sind es 24°C draußen und es gibt eine 76 prozentige Wahrscheinlichkeit auf Regen.” Jake wurde von Pages Stimme geweckt. Er richtete sich im Bett auf und begutachtete die Puppe. “Frühstück steht auf dem Tisch und Klamotten liegen bereit”, Page verließ nachdem sie zu Ende gesprochen hatte das Schlafzimmer und Jake machte sich fertig. Er zog sich an und putzte sich die Zähne.

In der Küche blieb er stehen und blickte auf den Tisch hinunter. “Wo ist mein normales Essen?”, er sah Page an, welche auf einem Stuhl platziert saß und in den Raum blickte. “Laut neusten Erkenntnissen ist dies das Gericht, welches für einen Menschen am Morgen das Beste ist,” sie bewegte ihren Kopf in seine Richtung während sie mit ihm sprach. “Ich will aber nicht das Beste, sondern das, was ich dir befohlen habe.” Er nahm den Teller mit dem Essen, lief hinüber zu seinem Mülleimer und warf es hinein. Das war bereits das dritte Mal, dass Page entgegen seiner Aussage gehandelt hatte und langsam wurde er wütend. So hatte er sie nicht programmiert.
Er warf den leeren Teller auf die Puppe zu, welcher an ihr abprallte und auf dem Boden zerschepperte. “Räum das auf und mach mir etwas Richtiges zu Essen,” er wandte sich sauer ab. “Ich erkenne viel negative Energie. Soll ich nach Beruhigungsmöglichkeiten suchen?”, die Puppe bewegte sich nicht vom Fleck, folgte ihm nur mit ihrem Gesicht.
Jake drehte sich zu ihr zurück, wütend von der erneuten Missachtung seiner Befehle und der vorherigen Wut griff er nach dem Kopf der Puppe, riss die Klappe an ihrem Hinterkopf auf und zog den Mikrocontroller hinaus. Die Puppe in seiner Hand schaltete sich aus. Die Wut noch immer in seinem Kopf, fing er an sie Stück für Stück auseinander zu nehmen. Sie schien so perfekt am Anfang, hatte aber nicht aus ihren Fehlern lernen können. Sie hatte nie gezuckt, wenn er wütend wurde und nie weitere Reaktionen gezeigt.
Jake riss weiter an den Teilen, leises Murmeln verließ seine Lippen:  „Nicht perfekt, nicht perfekt, nicht perfekt.”
Jake Madden saß allein in seiner Küche. Nicht das erste Mal.

Autorin / Autor: Lata Schnisa