Neuronale Essstörungen

Neurowissenschaftliche Studie zu Binge-Eating offenbart, dass dahinter eine Entscheidungsschwäche stecken könnte

Bis zu drei Prozent der Erwachsenen leiden in Deutschland unter Essstörungen. Zwar sind sie offiziell seit 2013 als psychische Erkrankung anerkannt, aber bisher weiß man nur wenig über ihre neurowissenschaftlichen Grundlagen. Die Binge-Eating-Störung ist die häufigste Essstörung überhaupt, bei der die Betroffenen unter regelmäßigen Essanfällen leiden. Wissenschaftler_innen des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig haben nun herausgefunden, dass Betroffene unter generellen Entscheidungsschwierigkeiten leiden, auch unabhängig vom Essen. Das spiegelt sich auch in ihrer Hirnaktivität wider.

„Binge“ steht im Englischen umgangssprachlich für eine Situation, in der übermäßig viel gegessen wird. Im Gegensatz zur Bulimie ergreifen die Betroffenen jedoch keine Gegenmaßnahmen und versuchen nicht, den Anfall „ungeschehen“ zu machen, indem sie sich erbrechen, Abführmittel zu sich nehmen oder extreme Diäten halten. Die Patienten leiden nicht nur an Schuld- und Schamgefühlen, ihnen drohen auch Adipositas, Diabetes und andere gesundheitliche Gefahren. Obwohl sie sich dieser psychischen und physischen Folgen durchaus bewusst sind, werden sie von dem Gefühl heimgesucht, nicht mit dem Essen aufhören zu können. Sie treffen damit im Zusammenhang mit Essen für sich schlechte Entscheidungen und schaffen es im Gegensatz zu anderen Menschen nicht, ihr Verhalten flexibel anzupassen.

Doch wie verhält es sich mit Entscheidungssituationen, die nichts mit Essen zu tun haben? Liegt das Problem vielleicht tiefer und den Patienten gelingt es generell nicht, eine einmal getroffene Wahl je nach Bedingungen zu überdenken? Bleiben sie möglicherwesie prinzipiell bei ihrer Entscheidung, selbst wenn diese für sie Nachteile bedeuten könnte? Dieses Fragen ging nun eine Studie am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS) in Leipzig nach, um so die Mechanismen hinter dieser Erkrankung zu verstehen.

Dazu nutzten die Wissenschaftler_innen ein scheinbar einfaches Kartenspiel: Den Proband_innen wurden jeweils zwei Karten vorgelegt, von denen eine deutlich häufiger gewinnt als die andere. Die Teilnehmer_innen sollten herausfinden, welche Karte die bessere Wahl ist. Dabei veränderte sich im Laufe des Spiels nach einem einfachen Schema, welche der beiden Karten gerade die Gewinnerkarte ist. Die Testpersonen mussten daher im passenden Moment ihre bis dahin getroffene „Standardentscheidung“ revidieren und sich für die jeweils andere Karte entscheiden.

*Binge Eating Patient_innen können sich schlechter entscheiden*
„Den meisten Menschen gelingt diese flexible Verhaltensanpassung gut, Binge Eating Patienten haben hier jedoch Schwierigkeiten“, erklärt Andrea Reiter, Erstautorin der dazugehörigen Studie. „Stattdessen testen sie immer wieder die offensichtlich schlechtere Option aus, obwohl sie es bereits anders gelernt haben.“ Die Forscher_innen schließen daraus, dass die Betroffenen generell Schwierigkeiten dabei haben, erfolgreiche Entscheidungen zu treffen und gelernte Erfahrungen angemessen nutzen zu können.

Das spiegelt sich auch im Gehirn der Studienteilnehmer wider: „Bei gesunden Menschen zeichnet sich die komplexe, gelernte Struktur hinter der Aufgabe – die eine Karte ist schlecht, wenn die andere gut ist - auch in der Hirnaktivität ab“, so Studienleiter Lorenz Deserno. „Bei Binge Eating Patienten ist das jedoch nicht der Fall. Bei ihnen ist der sogenannte mediale präfrontale Cortex weniger aktiv, also das wesentliche Hirnareal um zielgerichtete Entscheidungen zu treffen.“

Und nicht nur das: Auch das Warn- oder Fehlersystem scheint bei den Betroffenen nicht ausreichend zu funktionieren. Im Gegensatz zu gesunden Menschen sind bei ihnen nach einer unpassenden Entscheidung weder der laterale präfrontale Cortex noch die Insula entsprechend aktiviert – zwei Hirnregionen, die gesunden Menschen dabei helfen, zur besseren Option zurückzukehren.

„Natürlich wäre es für uns Menschen das Einfachste, wenn unsere Umgebung immer konstant bleiben würde. Dann könnten wir stets die gleichen gelernten Verhaltensweisen anwenden und müssten uns nicht ständig anpassen“, erklärt Deserno. „Da sich unsere Umwelt aber jederzeit verändert, müssen wir zielgerichtet unsere Handlungsoptionen neu überdenken und uns dabei auch auf positive Erfahrungen berufen können. Binge Eating Patienten fällt das deutlich schwerer."

Hinter den Erkenntnissen der Neurowissenschaftler_innen steht eine besonders innovative Methode, die sogenannte Computational Psychiatry. Ihr Ziel ist es, mathematische Algorithmen, sowie computerbasierte Simulationen und Modelle zu entwickeln, um psychische Krankheiten besser zu verstehen.

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Autorin / Autor: Redaktion/ Pressemitteilung