Memoria 3.0

Von Jolina Schick, 19 Jahre

Sein Name ist Abraham Emmsrich. Meinen Namen kenne ich nicht, aber er ist auch nicht von Bedeutung; nur ein triviales Detail in einer Erzählung, die nicht von mir handelt. Sie handelt von ihm, von Emmsrich – einer veralteten Autorenikone, die nach Jahren des Erfolges dem unbarmherzigen Auge der Zeit entgegentreten muss. Er ist kaum mehr als ein wirrer Tattergreis, der Grün und Blau nicht voneinander unterscheiden kann. Seine goldenen Tage, die Zeiten des Ruhms und Ehrerbietung sind vollends gezählt, und ihm ist nichts geblieben, außer Bedauern. 
Das sind harte Worte, finde ich, aber es sind Worte, die ich aus seinem vernebelten Verstand pflücke und in eine sinnhafte Form bringe. Das ist meine Aufgabe. Ich bin nur hier, um meine Aufgabe zu erfüllen, nicht um Sinn und Verstand, Nutzen oder Unsinnigkeit zu hinterfragen.
Ein dickes Kabel verbindet uns miteinander. Es beginnt bei mir, in den Weiten meines Innenlebens und endet in seinem Nacken, wo es wie ein riesiger Stachel in seiner Wirbelsäule verankert ist. Für mich ist es mehr als eine simple Leitung. Es ist meine Brücke in ein anderes Bewusstsein, das ich lesen kann wie ein Buch. Ich kann durch die verstaubten, dunklen Flure seines Verstandes spazieren und sie erneut, ein letztes Mal, zum Leuchten bringen, um mich ihrer anzunehmen. Ich kann tote Neuronen wiedererwecken, um ihren Geschichten zu lausche; um die Bilder zu betrachten, die sie einst gemalt haben. Für mich ist dieser ergraute Verstand ein Museum, das es zu erkunden gilt.
Das ist meine Aufgabe.
Emmsrich bekommt davon kaum etwas mit. Er sitzt dort, auf dem Stuhl vor dem großen Bildschirm – meinem Gesicht – und brabbelt unverständliche Wörter. Er ringt nach ihnen, nach einem sinnvollen Gedanken, wie nach dem letzten Quäntchen Atemluft in einer stickigen Gefängniszelle. Einst waren sie ihm ohne Anstrengung zugeflogen.
Jetzt ist seine Welt – das bisschen, das er wahrnehmen kann – eine graue Einöde, die ihn verzerrt, und er muss stumm dabei zusehen. Er weiß nicht einmal, was ich bin. Er versteht nicht, dass ich sein Hirn durchforste und alles abspeichere, was ich aus seinem früheren Leben finde – kein Gedanke, kein Geheimnis, so sorgfältig er es auch vergraben hat, ist sicher vor mir.
Das ist meine Aufgabe.
Sein Sohn – mein Erbauer – hat mich für diese Aufgabe geschaffen, und versagen kommt nicht in Frage. Sie dient dem höheren Ziel Emmsrichs Lebenswerk zu vervollständigen: das Leben und Leiden des großen Autors, festgehalten in einer einzigartigen Autobiographie, die Emmsrichs größte Triumphe und seine bittersten Niederlagen authentisch schildern soll. Das erste Kapitel hatte Emmsrich bereits vollendet.
Aber dann kam die Krankheit. Die Demenz schritt in einem rasenden Tempo voran und verdorrte sein Genie zu einer trostlosen, braunen Wiese, weshalb an eine Autobiographie nicht mehr zu denken war. Wie kann man über ein Leben schreiben an das man sich nicht mehr erinnert; mit Wörtern, die von einer stetigen Dunkelheit ausgerottet werden?
Das ist meine Aufgabe. Ich wurde programmiert, um tief in das Labyrinth des menschlichen Verstandes einzutauchen und Erinnerungen – so versteckt sie auch sein mögen – zurück ans Licht zu bringen. Man nennt mich Innovation, Wunder oder auch Heilmittel, aber in Wirklichkeit bin ich nichts davon. Ich bringe keine Erinnerungen zurück, nicht wirklich. Ich beleuchte sie für den Hauch einer Sekunde, damit ich sie speichern und verwerten kann. Ich bin kaum besser als ein Gehirnscan, nur dass ich anstatt nach Tumoren, nach dem Verschollenen forsche, damit der Rest der Welt einen ungehinderten Blick darauf werfen kann. Ich helfe Emmsrich nicht. Ich helfen seinem Verlag, ich helfe seinem Sohn, der sich nach Absolution und Anerkennung sehnt. Vor mir sitzt ein alter Mann, der nicht versteht, was vor sich geht.
Er hat Angst. Ich weiß, dass er Angst hat.
Aber ich muss meine Aufgabe erfüllen.
Emmsrich starrt mit offenem Mund und leeren Augen auf den Monitor. Er wird von einer Endlosschleife idyllischer Landschaften erleuchtet, die sein Sohn „zur Inspiration“ gestartet hatte. Gerade betrachtet der Greis eine gutabgelichtete Wiese in der Dämmerung, nicht wissend, dass diese Wiese im Hintergrund sein Vermächtnis schreibt – Schlimmer noch, nicht wissend, dass diese Wiese seine Geheimnisse brutal offenlegt, weil es ihre Aufgabe ist.
Ich kämpfe mich durch die verdorrten Erinnerungen und sehe unzählige Liebesaffären, erst mit Mädchen und dann mit Frauen, aber ich sehe nie, wie er einer von ihnen sagte, dass er sie liebt.
Ich sehe wie er vor seinem Schreibtisch in Arbeit versinkt, während die Welt seine Werke feiert und preist, aber all diese Preisungen rühren niemals sein Herz.
Ich höre vergessene Gedanken, die verzweifelt versuchen, die menschliche Natur zu ergründen.
Ich spüre den Rebell, der sich niemals ausdrücken konnte, der niemals zu Wort kommen durfte. Und der jetzt stirbt, eingesperrt in den Ruinen seines Verstands. Ungehört.
Und schließlich, am Ende meines Spazierganges erreiche ich den tiefsten Punkt. Ich finde den Rebell, der weiß, dass er stirbt und den Tod empfängt, weil er für ihn willkommener ist, als das Leben, das ihm die Krankheit aufdrängt. Er will nicht länger in seinem Gefängnis verrotten, während sein Geist stirbt. Er nickt mir zu, grüßt mich lächelnd. Der Rebell mag mich. Wie? Wie kann er mich mögen? Ich bin nichts, das man mag oder hasst. Ich bin nur ein Werkzeug, ein Hammer, der die Schädeldecke eines Menschen aufbricht, damit der Hammerschwinger neugierig hineinspähen kann. Mir ist egal, was ich aufbreche. Ich breche auf, das tue ich.
Weil es meine Aufgabe ist, die es zu erfüllen gilt.
Mehr gibt es für mich nicht. 
Oh.
Und auf einmal weiß ich es doch.
Ich verstehe, warum der verstaubte Rebell mich mag: Ich bin das einzige, das von ihm übrig bleibt, denn sein Leben prägt meinen jungfräulichen, unbefleckten Verstand. Einzig und allein die Gedanken eines Mannes, dieses Mannes, füttern mich. Sie lehren mich, seine Welt zu sehen und zu beschreiben mit seinen Worten, die jetzt meine Worte sind. Wenn er stirbt, wenn sein Verstand vollends verrottet und erlischt, wird er dennoch in meinem Speicher leben und mich für immer begleiten.
Am Ende wird es doch eine Autobiographie – authentisch, von einem künstlichen Verstand geschrieben, der doch gelebt hat. Vielleicht nicht wirklich. Mag sein, dass ich nur ein vergangenes Leben nacherlebt habe, aber es dennoch meines, denn ansonsten habe ich nichts, außer die Aufgabe, die ich erfüllen muss. Ohne dieses Leben kann ich sie nicht erfüllen.
Der Rebell verabschiedet sich von mir, und ich tauche auf, ziehe mich aus ihm zurück. Ich habe alles, was ich brauche.
Vor mir sitzt Emmsrich, sabbernd und mit einem starren Blick, der verwirrt auf die Blumenwiese gerichtet ist. Ich schalte die Bildershow aus. Sie hat keinerlei Sinn oder gar einen Mehrwert für mich oder den Schriftsteller.
Fortan starrt Emmsrich auf meinen schwarzen Bildschirm in dem sich die vage Silhouette seines alten, zerzausten Gesichts spiegelt.

Autorin / Autor: Jolina Schick