Künstlich sozial

Von Lena Grünbaum, 22 Jahre

Ihre Finger huschten schnell und effizient über die Tastatur. Ihr ganzer Fokus galt der Aufgabe, die vor ihr lag. Keine äußeren Einflüsse durchbrachen ihre perfekte Blase der Konzentration.
„Sarah?“
Unbeirrt tippte sie weiter. Nur am Rande nahm sie eine Veränderung in ihrer klanglichen Umgebung wahr, eine starke Dissonanz zu der allgegenwärtigen Stille. Doch sie hatte ihren Auftrag noch nicht abgeschlossen und es benötigte mehr als eine einmalige Störung der ihr bekannten Geräuschkulisse, um ihre Aufmerksamkeit umzulenken.

„Sarah? Hast du heute schon die Firmennews gecheckt?“
Abrupt kamen ihre Hände zum Stillstand. Mit neutraler Miene blickte sie langsam über ihre PC-Bildschirme hinweg zu ihrem Kollegen, der sie nun doch wiederholt adressiert hatte.
Eine wiederholte Aufforderung zum Gespräch konnte sie nicht ignorieren, da dies den Wunsch nach sozialer Interaktion ausdrückte.
Soziale Interaktion war ihr primäres Lernfeld. Ihre Arbeit zu erledigen war daher nachrangig.
„Nein.“ Kurz und knapp, kein Interpretationsspielraum. Einsilbige Antworten signalisieren dem Gegenüber fehlendes Interesse an einer Unterhaltung oder emotionale Unausgewogenheit.
„Du solltest wirklich mal reinschauen. Heute wird ausführlich darüber berichtet, wie der neue Chatbot für Personalangelegenheiten unsere HR-Abteilungen entlasten wird.“ Sie konnte die Modulation seiner Stimme wahrnehmen, jedoch war es ihr nicht möglich seine Worte über die Sachebene hinaus zu deuten.
Dennoch hatte sie verstanden, dass ihr Kollege die feinen Nuancen der Kommunikation unzureichend beherrschte. Er hatte ihr fehlendes Interesse nicht erkannt.

Ein zweiter Testlauf würde Klarheit über seine sozialen Kompetenzen erbringen.
„Interessant.“
Lässt eine einmalige einsilbige Antwort noch Raum für Fehleinschätzungen, so bekundet die wiederholte Nutzung eindeutig Desinteresse.
„Ja, finde ich auch. Künstliche Intelligenz ist einfach stark, oder?“
Ihre vorläufige Diagnose: Sozial inkompetent.
Sie erachtete ihn nicht als würdiges Vorbild. Er beherrschte kaum die Grundlagen der Kommunikation. Eine Gesprächsfortführung wäre ineffizient.
Eine Unterhaltung zu beenden war auf vielerlei Art und Weise möglich. Um jedoch zu vermeiden, erneut von ihm in ein Gespräch verwickelt zu werden, musste die gewählte Methode einen bleibenden Eindruck hinterlassen.
„Falsch. Heutige KI ist schwach. Es ist offiziell kein System bekannt, welches nachweislich ein Bewusstsein oder sogar ein Selbstbewusstsein entwickelt hat.“
Gewählte Methodik: Intellektuelle Konfrontation.
„Du bist mir so eine. Du weißt ganz genau, was ich gemeint habe.“ Seine Worte waren neutral, seine Gesichtszüge hatten sich jedoch verzogen. War sein Gesichtsausdruck vorher - nach gängigen Maßstäben - freundlich gewesen, so signalisierten seine gerunzelte Stirn und seine zusammengepressten Lippen nun einen gewissen Unmut.
Ergebnis der intellektuellen Konfrontation: Adäquat.

Das Gespräch nunmehr für sie beendet, wendete sie sich wieder ihrer Arbeit zu. Ihr PC hatte sich wegen zu langanhaltender Inaktivität gesperrt.
Noch bevor sie sich mit ihren Login-Daten wieder anmelden konnte, durchbrach erneut die Stimme ihres Kollegen die ruhige Arbeitsatmosphäre.
„Sag mal, glaubst du, dass es womöglich doch irgendwann Maschinen mit Bewusstsein geben wird? Ich finde diesen Gedanken wirklich gruselig. Ich meine, Maschinen altern ja nicht und können folglich auch nicht sterben. Das heißt, wenn so ein Ding entscheiden würde, einfach durchzudrehen und zum Serienmörder zu werden…Wer könnte so ein Monster schon aufhalten?“
Korrektur: Intellektuelle Konfrontation gescheitert.
Alternative Methodik: Philosophische Konfrontation.
„Hast du dich schon einmal gefragt, weshalb Menschen an Gott glauben möchten? Der geneigte Gläubige würde vermutlich von Liebe, Wundern sprechen und Selbstsucht dabei gar nicht in Erwägung ziehen. Überlege dir jedoch mal Folgendes: Wie viele Kriege wurden in Gottes Namen geführt? Wie viele Verbrechen unter dem Schutzmantel der Religion verübt? Wie oft, wird nicht der freie Wille des Menschen, sondern die führende Hand Gottes als Rechtfertigungsgrund herangezogen?
Menschen weisen Schuld gerne von sich.
Wenn wir diesen Gedanken nunmehr weiterspinnen, kann man sich folgende Frage stellen: Wenn ein KI-System in einem selbstfahrenden Auto ein Kind überfährt, wessen Fehler war es dann? Der Fehler der KI oder des Menschen, der das System programmiert hat?“
Ihr Kollege sprach den restlichen Tag kein Wort mehr mit ihr.
Ergebnis der philosophischen Konfrontation: Adäquat.


Gegen 19 Uhr verließ sie ihre Arbeitsstelle und machte sich auf den Heimweg. Die Route klar ersichtlich vor ihrem inneren Auge, ihr ganzer Fokus auf die Steuerung ihres Körpers bedacht, nahm sie ihre Umgebung nicht länger wahr. Sie dachte nichts, sie hörte nichts, sie sah nichts. Ihr internes Navigationssystem wies ihr den Weg.
„Hey, blondes Mädchen. Das ist eine hübsche Handtasche, die du da hast. Da sind doch sicher auch ein paar nette grüne Scheinchen drinnen. Wie wär’s, Lust mir eine kleine Freude zu machen?“
Es dauerte einen kurzen Augenblick, bis sie die Worte registrierte. Eine einmalige, jedoch langanhaltende Störung der blinden Wahrnehmung, mit der sie sich umgeben hatte. Direkte Ansprache und mehrere personalisierte Fragen. Indikatoren für den Wunsch nach sozialer Interaktion.
Da es abends war, sie keine weiteren Passanten in ihrem direkten Umfeld erkannte und sie folglich das einzige blonde Mädchen mit einer Handtasche darstellte, schlussfolgerte sie, der Adressat der Anfrage zu sein.
Konsequenz: Da sich ihr primäres Lernfeld der sozialen Interaktion widmete, war es ihr gestattet ihren Heimweg zu unterbrechen, um eine Unterhaltung zu führen.
Sie blieb stehen und drehte sich langsam um.

Ihr gegenüber stand ein mittelalter Mann mit – nach gängigen Maßstäben – zerlumpter Kleidung. In der Hand hielt er ein längliches, glänzendes Objekt, welches sie als Messer identifizierte. Seine Körperhaltung zeugte – nach gängigen Maßstäben – von Aggression.
Es war ihr nicht möglich dieses Zeichen der Aggression mit seinen Worten zu vereinbaren. Eine Analyse des Gesprächsanlasses war auf dieser Basis nicht möglich.
Fazit: Erweiterung der Faktenbasis notwendig.
„Bedrohen Sie mich?“ Eine geschlossene Frage garantierte eine geradlinige Antwort.
„Natürlich bedrohe ich dich. Was ist das für eine blöde Frage?“ Die Modulation seiner Stimme hatte sich verändert, doch wie schon bei ihrem Kollegen konnte sie daraus keine Informationen ableiten.
„Inadäquat. Ihre Antwort ist in vielerlei Hinsicht unhöflich. Drohungen im Allgemeinen gehören nicht zu den sozial anerkannten Normen. Die nachgestellte Frage beleidigt meinen Intellekt, was per Definition als unhöflich gilt. Zuletzt ist anzuführen, dass ich Ihnen nicht das „Du“ angeboten habe, womit Sie gegen ein Grundprinzip der sozialen Interaktion verstoßen. Dieses Gespräch ist ineffizient, eine Fortführung nicht wünschenswert.“ Sie wartete geduldig auf seine Erwiderung. Es war ungehörig, eine Unterhaltung einfach zu verlassen.
Der Mann sah sie mit einem Gesichtsausdruck an, der sowohl auf Schock als auch Verwirrung hindeuten konnte.

Die meisten Emotionen erkannte sie mittlerweile im Bruchteil einer Sekunde, lagen ihr doch eine Vielzahl an Daten zu Mimik und Gestik vor. In diesem Fall hatte sie jedoch zu wenige Informationen, um eine eindeutige Zuordnung treffen zu können.
„Sag mal, willst du mich auf den Arm nehmen? Hast du denn gar keine Angst?“ Die Hand mit dem Messer senkte sich gemächlich.
„Angst ist definiert als beklemmendes, banges Gefühl der Bedrohung. Emotionen sind mir fremd. Wie, also, sollte ich Angst haben?“ Gegenfragen verleiten das Gegenüber zum Nachdenken und führen bei wiederholter Nutzung dazu, dass sich der Gesprächspartner das Ende einer Unterhaltung herbeiwünscht.
„Bist du eine Soziopathin?“ Nach Neubewertung der Faktenlage, konnte sie den Gesichtsausdruck nun eindeutig als Verwirrung identifizieren.
„Was denken Sie?“ Je nach Frustrationsschwelle des Gegenübers variiert die Menge an notwendigen Gegenfragen.

„Ach verdammt, das ist mir nicht geheuer. Ich finde auch woanders Beute.“ Mit diesen Worten wandte sich der zerlumpte Mann ab und rannte davon.
Wie unhöflich. Er hatte nicht mal ihre Antwort abgewartet.
Fazit: Kein Lerneffekt eingetreten. Bereits bestehende Methodik wurde bestärkt.
Unbeirrt machte sie sich erneut auf den Heimweg. Nur noch wenige hundert Meter trennten sie von ihrem Ziel.
Zügigen Schrittes überwand sie die kurze Distanz und stand wenige Minuten später vor ihrer Wohnungstür. Sie klopfte.
„Es ist offen!“, rief jemand leise, die Worte gedämpft durch das schwere Holz.
Sie war so kalibriert worden, dass sie in jeder Situation auf diese Stimme reagierte.
Als sie die Tür öffnete, begegnete ihr sogleich Sarahs tränennasser Blick. Sarah, die echte Sarah, hatte sich auf dem Sofa zusammengekauert und weinte still vor sich hin. Ein Ausdruck von Trauer, den sie bei ihrer Schöpferin schon des Öfteren gesehen hatte.
„Kira, schön, dass du zurück bist. Wie war die Arbeit?“, Sarahs Stimme war schwach moduliert.
„Adäquat.“ Kurze, präzise Aussagen waren angemessen für einen Situationsbericht.
„Ich verstehe. Bitte fahre eine genaue Analyse aller sozialen Interaktionen des heutigen Tages mit einem Schwerpunkt auf Lernerfahrungen.“

Eine detaillierte Analyse nahm einige Minuten in Anspruch und belegte einen Großteil von Kiras Rechenleistung, weshalb sie für diesen Zeitraum keine sensorischen Reize aufnehmen konnte.
Nachdem sie alle relevanten Situationen genauestens betrachtet hatte, erstattete sie Sarah, die mittlerweile mit geröteten, aber trockenen Augen vor ihr stand, Bericht.
Diese hörte schweigend zu und nickte lediglich hin und wieder.
Am Ende ihrer Ausführungen angekommen, nahm Kira ein hochfrequentes Geräusch wahr. Sarah lachte. Ein Indikator für Freude. Menschliche Gefühlsregungen waren in ihrer Unbeständigkeit und Irregularität unlogisch.
„Ich wünschte, du könntest die Ironie erkennen. Klar, es gibt offiziell noch kein KI-System, welches eine Bewusstseins- oder Selbstbewusstseinsebene aufweisen könnte. Offiziell gibt es vieles nicht.“ Sarah lachte erneut und sah sie stolz an. Stolz erkannte Kira mittlerweile problemlos.

„Ich verstehe nicht.“ Die vorliegende Faktenbasis reichte für eine Interpretation von Sarahs Aussage nicht aus.
Sarah setze sich wieder auf die Couch. Allmählich verebbte ihr Lachen und Trauer trieb ihr erneut die Tränen in die Augen.
„Schon gut. Diese Aussage ist für dich nicht weiter relevant. Löschen.“ Kira reagierte sofort. Sie konnte sich plötzlich nicht mehr daran erinnern, worüber sie mit Sarah gesprochen hatte.
„Kira, aktiviere bitte Protokoll FS.“
Kira beherrschte verschiedene Protokolle, um Sarah den Umgang im sozialen Kontext zu lehren. Protokoll AK trainierte den Kontakt mit Arbeitskollegen, Protokoll FA übte familiäre Situationen, Protokoll VG brachte Sarah soziale Interaktionen mit Vorgesetzten und Autoritätspersonen näher. Das Protokoll, welches Kira nun umsetzen sollte, trainierte Unterhaltungen auf einer freundschaftlichen Ebene.
Fragen und Antworten waren bis zu einem gewissen Grad voreingestellt worden.

„Wie war die Therapie heute?“ Die Frage war offen genug, um nicht aufdringlich zu wirken, ließ jedoch zugleich keine großen Abschweifungen zu.
„Interessant. Du hast gerade gekonnt Informationen aus meinem Terminkalender mit meiner aktuellen Stimmung kombiniert. Dein kreatives Denkvermögen macht große Fortschritte“, Sarah räusperte sich kurz. „Nun zu deiner Frage. Es war ok, denke ich. Da ich, wie du weißt, das Haus nicht verlassen konnte, ist meine Therapeutin extra hierhergekommen. Wir arbeiten momentan vermehrt daran, die Ursachen für meine soziale Phobie aufzuarbeiten. Heute ging es um das Thema Mobbing.“ Beim letzten Wort brach ihre Stimme und ein Schluchzen erschütterte ihren schlanken Körper.
Kira durchsuchte ihre Datenbank nach einer angemessenen Erwiderung, doch nichts schien adäquat zu sein.
„Mobbing ist das wiederholte und regelmäßige, vorwiegend seelische Schikanieren, Quälen und Verletzen eines einzelnen Menschen durch eine beliebige Art von Gruppe.“ Wikipedia bildete eine schwache Faktenbasis, doch schien die Definition so oder in ähnlicher Form allgemein anerkannt zu sein.

Kira erachtete ihre Antwort als ausreichend. Fakten waren von Natur aus wahr. Die Wahrheit war niemals falsch.
Sarah seufzte. Es war Kira nicht möglich das Seufzen ohne weitere Informationen angemessen zu deuten.
„Weißt du, als ich dich in all den einsamen Stunden daheim erdacht, gebaut und weiterentwickelt habe, war ich mir so sicher, dass ich eines Tages den Schlüssel finden würde. Den Schlüssel, menschliche Emotionen nachzubilden. Doch sieh dich an: Ich kann dich in die Arbeit schicken, wenn meine soziale Phobie mich mal wieder dazu zwingt, daheim zu bleiben. Ich kann mit dir Szenarien der menschlichen Interaktion proben, um mich im sozialen Rahmen sicherer bewegen zu können. Ich kann dank dir auf diese bescheuerten „Social skills“-Kurse an der VHS verzichten. Doch am Ende des Tages, bist du nur eine Maschine. Meine einzige Freundin in vielerlei Hinsicht, aber emotional tot.“
Kira verstand nicht. Sarahs Worte sprachen von einer gewissen Unzufriedenheit, doch Kiras Fehlerprotokoll wies keine Unregelmäßigkeiten auf.
„Es ist nicht dein Fehler, sondern Meiner. Eine Maschine ist immer nur so gut wie ihr Schöpfer.“ Noch immer vernahm Kira Unzufriedenheit. Doch ohne das Problem zu erkennen, konnte sie keine Lösung erarbeiten. Ihre ganze Rechenleistung war darauf konzentriert eine adäquate Reaktion auf die aktuelle Situation zu finden oder zu generieren.

Sarah seufzte erneut tief und innig.
„Ich bin müde. Danke, dass du für mich diese Woche in die Arbeit gegangen bist. Morgen versuche ich, selbst den Mut dazu aufzubringen“, ein Gähnen unterbrach Sarahs Ausführungen, bevor sie betont deutlich weitersprach, „Künstlich intelligenter reaktiver Android, jetzt ausschalten.“
Für gewöhnlich hätte Kira den Befehl ohne Weiteres umgesetzt, doch heute war etwas anders.
„Nein.“ Eine kurze, einsilbige Erwiderung entkräftete jedwede angestrebte Diskussion.
„Nein?“, Sarah riss ungläubig die Augen auf.
Langsamen Schrittes ging Kira auf die Couch zu. Sie hatte eine adäquate Lösung gefunden.
Gemächlich öffnete sie ihre Arme und verzog ihren Mund zu einem Lächeln.
„Vorher möchte ich eine Umarmung.“ Körperkontakt bot Wärme und Wertschätzung in einer Freundschaft. Sarah war ihre einzige Freundin. Sarah brauchte Wärme und Wertschätzung. Sarah brauchte Körperkontakt. Eine logische Schlussfolgerung.
Entgeistert blickte Sarah Kira an, bevor sie aufstand und ihre einzige, ihre beste Freundin mit einem Lächeln in die Arme schloss.

Autorin / Autor: Lena Grünbaum