Kein Wort

Einsendung zum Schreibwettbewerb Dr. Futura im Wissenschaftsjahr Gesundheitsforschung

Ich starre in den matschigen Schnee. Drei Monate war der Unfall jetzt her. Wenn ich die Augen schließe, dann kann ich immer noch sehen, wie die Flammen über meinem Kopf loderten und ich öffne den Mund zu einem lauten Schrei, obwohl ich stumm bin und kein Wort über meine Lippen kommt. Ich fühle die Angst, die meinen Körpern hinunterfährt, wie das Luftschiff den Himmel. Genauso sturzartig und verdammt schnell. Ich kann’s noch fühlen, obwohl ich seitdem gelähmt bin, vom Hals ab. Und ich höre, wie die Luft in meinen Ohren pfeift, obwohl ich taub bin. Das einzige, was ich noch kann, ist sehen. Ich bin ein Wrack von einem Mensch. Ein wandelnder Toter. Wenn ich doch nur ein einziges Mal eine menschliche Stimme hören könnte. Ja, manchmal treffe ich noch einen Typen, der einen Transformator besitzt. Die Dinger sind schon alt und übersetzen die Unterhaltungen nur schlecht für Taube. Sie sind total einfach zu bedienen: Man streift sich Handschuhe über und ist eben am Transformator angeschlossen. Über die Handschuhe bekommt man kleine, elektrische Schläge und das Gehirn kann dann die Sätze verstehen. Es ist in etwa so wie eine Bandansage. Langweilige, monotone Wörter, ohne erkennbaren Sinn aneinander gereiht. Das muss auch der Grund gewesen sein, warum sie die Maschinen abgeschafft haben.

Gestern Abend hab ich eine junge Frau getroffen, die noch einen Transformator hatte. Sie hat mir erzählt, dass sie eine fünfundzwanzig-jährige Ärztin aus San Francisco sei und mich zu sich in die Klinik bringen will. San Francisco ist eine der führenden Städte auf dem medizinischen Gebiet. Die bilden da richtig gute Ärzte aus, keine Frage. Also hab ich ihr gesagt, dass ich komme, nur so zum „durchchecken“, wie sie es genannt hatte. Und jetzt steh ich vor eben dieser Klinik. Sie sieht recht einladend aus, nicht so, wie die anderen Betonklötze. Es ist eine alte Bibliothek, glaube ich. Mein Großvater war oft hier, aber schon als mein Vater drei war, haben sie angefangen, aus der weltweit größten Bibliothek die weltweit kleinste, aber erfolgreichste Klinik zu machen. Ich rolle mit meinem ausgebeulten Rollstuhl über eine kleine Brücke auf den Eingang zu. Über meinem Kopf dröhnen die Luftschiffe, aber das einzige, das ich davon mitbekomme, sind Schatten, die hin und wieder über mich streichen. Die Türen öffnen sich von alleine. Dem Mann am Empfang sage ich meinen Namen und dass mich diese junge Ärztin erwartet, alles in Zeichensprache, die ein riesiger Computer für ihn übersetzt. Sein Blick wandert von mir zum Monitor und er sagt irgendetwas, aber ich verstehe natürlich nicht was. Schon nach wenigen Minuten kommt die junge Frau. Lächelnd streift sie mir die Handschuhe des Transformators über.

„Hallo. Schön. Dass. Sie. Gekommen. Sind. Ich. Heiße. Fyalla. Ghorag.“, tönt eine abgehackte Stimme durch meinen Kopf. Trotzdem muss ich daran denken, dass das der beste Transformator ist, den ich jemals gesehen und gehört habe. Immerhin war das ein Satz gewesen, der Sinn gemacht hat!
„Es. Ist. Eine. Neue. Erfindung. Ich. Kann. Hören. Was. Sie. Denken. So. Unterhalten. Wir. Uns.“
Fyalla lächelt und schiebt meinen Rollstuhl durch eine riesige Tür. Es ist ein ziemlich langweiliger, leerer Gang, durch den kaum Leute gehen. Ganz am Ende ist eine unscheinbare Tür, auf der Personal Staff only steht. Typisch, dass es auf Englisch ist. Dass es eine Weltsprache ist, besser gesagt die Weltsprache, hat sich trotz vielen Prognosen in den letzten hundert Jahren gehalten. Chinesisch ist gaaanz weit nach hinten gerutscht! Fyalla schnipst mit den Fingern und auch diese Tür öffnet sich für uns. Hier wird es schon wesentlich eindrucksvoller: Ärzte schweben mit Hilfe von speziellen Anzügen und Medikamenten durch die Luft und behandeln bis zu fünf Patienten gleichzeitig. Die Leistung des menschlichen Gehirns ist um ein Vielfaches angestiegen, muss man wissen. Licht kommt buchstäblich aus der Decke, die wie eine riesige Sonne aussieht. Der einzige Unterschied ist, dass man von ihr nicht geblendet wird. Ich starrt mit offenem Mund in den Raum. Die Luft ist erfüllt von den Bewegungen von winzigen Robotern, die noch nicht einmal ein Geräusch machen, wie ich später feststellen werde. Ich komme mir vor wie auf einem Raumschiff.
„Sie. Sind. Auf. Einem. Raumschiff.“, erklang wieder die Stimme. Fragend sah ich zu Dr. Ghorag auf.
„Wir. Können. Jederzeit. Starten.“, meinte diese, „Im. Notfall. Das. Ist. Der. Neuste. Stand. Der. Technik. James.“
Die Technik, dachte ich, natürlich. Aber wohin hat sie uns schon gebracht?
Dr. Ghorag betrachtete mich jetzt mitleidig.
„Keine. Sorge. James. Wir. Haben. Schon. Schlimmeres. Gesehen. Nicht. Viel. Aber. Schlimmeres. Wir. Kriegen. Sie. Wieder. Hin.“
Von der Operation habe ich alles mitbekommen, kann mich aber an kaum etwas erinnern. Es hat nicht weh getan, denn dafür hat mir Dr. Ghorag, Fyalla, ein paar Medikamente gegeben, die den Schmerz verschwinden lassen. Später bin ich eingeschlafen und habe irgendeine Spritze bekommen. Dann habe ich vergessen, doch jetzt kann ich davon erzählen, sowie schriftlich als auch mündlich. Und ich kann deine Fragen beantworten, auch wenn du aus einer anderen Zeit stammst, denn das ist den gesunden Menschen erlaubt: Sie können, bei bestimmen Sicherheitsvorschriften und einem Haufen Papieren durch die Zeit reisen, sofern sie die Zukunft nicht verändern. Aber das muss ja keiner wissen, oder?

Autorin / Autor: yelanah, 14 Jahre