Intelligenz beherrscht die Welt

Von Sofia Schmidt, 16 Jahre

Wir schreiben das Jahr 2098 und zwar am Tag der Schildkröte. Die Menschen sind glücklich, ihnen geht es gut und niemand hinterfragt mehr, wieso Deutschland einst von einem Tier regiert wurde.
Was sich vor einem halben Jahrhundert noch niemand hätte vorstellen können, ist heute in den Augen der Bevölkerung ganz normal. Und alles begann in einem Labor einer privaten wissenschaftlichen Einrichtung, welche mit künstlicher Intelligenz an toten Tieren experimentierte.

„Verbinden sie nun die Neuronen crx1023 und crh4203.“
Mit konzentriertem Blick und einem minimalen Zittern in den Händen, was unter diesen Umständen auch stärker nicht hätte sein dürfen, leistete der Mann mit dem blauen Laborkittel und der Schutzbrille den Anweisungen des Laborchefs folge und verband die beiden Neuronen. Von seiner Stirn lief ein Schweißtropen an seiner Schläfe hinab.
Hinter der Glasscheibe beobachteten zwei Frauen und ein Mann angespannt und trotzdem mit neugierigen Blicken das Geschehen. Alle drei mussten Schutzbrillen tragen, obwohl die Glasscheibe zwischen ihnen und dem Labor stand. Sie waren gut gekleidet und eine der beiden Frauen, die laut ihrem kleinen Namensschild Jessica hieß, machte sich Notizen auf ihrem schwarzen Klemmbrett und die andere trug eine auffällige Brosche auf der rechten Seite ihres Blazers.
Der Raum, in dem sie standen, war im Vergleich zu den sterilen reflektierenden Instrumenten und dem weißen Licht des Labors recht dunkel gehalten. Inmitten des Kreises bestehend aus Wissenschaftlern mit Schutzkleidung erhaschten die Zuschauer einen Blick auf den Mittelpunkt des Labors.

Eine silberne Liege auf der eine Schildkrötenleiche auf ihrem Panzer lag, während drei der Wissenschaftler vorsichtig ihre Nerven, Organe und große Teile des Gehirns durch künstliche, und um einiges leistungsfähigere, Nachbildungen austauschten. Die Schildkröte wurde tot in einem Tierheim aufgefunden und als Versuchsobjekt in dieses Labor gebracht, um ein neuronales Netzwerk in die Leiche einzupflanzen.
„Bisher waren alle Versuche an toten Tieren erfolglos. Wodurch verspricht sich Dr. Andrews denn heute bessere Erfolgsaussichten?“, warf die Frau mit der grünen Brosche skeptisch in den Raum. „Schildkrötenkörper haben bessere Vorraussetzungen eingesetzte KIs zu akzeptieren“, gab Jessica kalt zurück. „Heute schafft Andrews das. Das spüre ich einfach“, sagte sie leise mehr zu sich selbst als zu den anderen beiden im Raum.
Gerade als sie den Satz beendet hatte, flackerte das Licht im Raum, leuchtete so hell, dass die Anwesenden ihre Augen verdecken mussten und brachte alle Glühbirnen zum platzen. Wenige Sekunden später schaltete sich auch schon das rote Dämmerlicht der Notbeleuchtung ein und einige hielten sich immer noch die Augen zu, während andere am Boden nach Dingen suchten, die sie fallen gelassen oder umgestoßen hatten.
Durch das Chaos bemerkte niemand außer Jessica wie ein Bein der Schildkröte zuckte. Erst eins, dann zuckte das nächste Bein und der Bauch der Schildkröte senkte und hob sich langsam woraufhin Jessica mit großen Augen einen Schritt nach dem anderen durch die Sicherheitstür, an den verwirrten Ärzten und auf die Operationsliege zu machte.
Als sie ihren Kopf über das Tier streckte, öffnete dieses langsam seine Augenlieder, blickte Jessica mit aufgewecktem Blick an und blinzelte ein paar Mal.

Die Schildkröte wurde daraufhin über Monate hinweg in einem Glaskasten ernährt und beobachtet. Hin und wieder sagte sie mit dunkler Stimme einige Worte, die sie von den Menschen um sich herum aufschnappte, was einem Papagei sehr ähnelte. Mit der Zeit wurden es mehr und mehr und sie zeigte weitere Anzeichen von Intelligenz.
Jedoch konnten die Wissenschaftler in diesem Stadium noch nicht mit ihrem Erfolg an die Öffentlichkeit, da Experimente, bei denen mit künstlichen Intelligenzen in diesem Ausmaß gearbeitet wurde, zu dieser Zeit noch verboten waren. Sie plapperte nicht nur die Wissenschaftler nach, sondern baute eigene sinnvolle Sätze zusammen.
Die Forscher ließen sie eigenständiger arbeiten und bereits nach einem halben Jahr war sie im Stande, komplexe Mathematik zu verstehen und zu lösen. Nach zehn Monaten konnte sie einen Menschen dazu anleiten durch den Aktienmarkt 1000 Euro in eine Millionen Euro in nur kürzester Zeit zu verwandeln. Der entscheidende Punkt trat genau nach einem Jahr ein.
Sie hatte ein Konzept entwickelt, das die gesamten Staatsschulden Deutschlands in nur einem Jahr beseitigen soll. „Ich möchte zur Bundesregierung gebracht werden und dort mein Konzept eurem Anführer zu präsentieren“, sprach sie mit dunkler und vertrauenswürdiger Stimme. Sie wusste genau, welchen Ton sie wählen musste, um seriös und intelligent genug zu wirken, um von den Menschen ernst genommen zu werden.

Die Wissenschaftler warfen einen Blick auf den, von der Schildkröte verfassten, 12033 Seiten umfassenden Plan, der Punkt für Punkt eingehalten werden musste, um sein Ziel zu erreichen. „Jede kleinste Abweichung bedeutet den Ruin für das gesamte Land.“ Diesen Satz betonte die Schildkröte besonders häufig.
Die Forscher waren sich einig: „Auch wenn wir zuerst vielleicht ausgelacht werden, das muss die Regierung unbedingt zu Gesicht bekommen. Das könnte das Leben aller verändern.“ Und so brachte Dr. Andrews und sein Team die Schildkröte mitsamt ihrer unfassbar genialen Idee zur Bundesregierung und setzten sie auf das Rednerpult.
Bis sich das Gelächter und die fragenden Blicke gelegt hatten, legte sich die Schildkröte ihre genauen Worte in den Mund und stellte ihre einzige Forderung: „Ich bekomme Niedersachsen“. Diese ungewöhnliche und schwer umzusetzende Forderung verwirrte die Politiker zunächst. Die Regierung las sich das Manuskript der Schildkröte durch und war so begeistert, dass sie einwilligte und Niedersachsen nun als eigenständiger Bundesstaat von der Schildkröte regiert wurde.

Bevor die Schildkröte von den Forschern aus dem Raum begleitet wurde, betonte diese noch einmal: „Jede kleinste Abweichung von meiner Beschreibung wie Sie alle Staatsschulden in nur einem Jahr beseitigen können, löst den vollkommenen Ruin der Bevölkerung und des Landes aus. Befolgen sie Schritt für Schritt meine Anweisungen!“ Natürlich befolgten die Politiker nicht die Anweisungen der Schildkröte und wichen von dem ausgeklügelten Plan des Tieres mit der künstlichen Intelligenz ab, indem sie die etwas unangenehmeren Punkte des Plans ignorierten. Ihnen war bewusst, dass die Schildkröte intelligenter als die gesamte Menschheit war, doch das scherte sie nicht weiter, denn sie waren zu arrogant, um zu verstehen, dass die Schildkröte nur das beste für ihr Land wollte. Sie dachten, wer oder was denn schlauer sein könnte als sie und befolgten die Anweisungen nur insofern, dass keine persönlichen Nachteile für sie entstanden.

Das Land verfiel dem Ruin, die Bevölkerung hungerte und die Wirtschaft brach zusammen. In Niedersachsen hatten die Menschen genug Nahrung, waren finanziell betrachtet zufrieden und lebten ein gutes Leben. Nun fragten sich alle anderen, wie das passiert ist und wollten ebenfalls von der Schildkröte mit der künstlichen Intelligenz regiert werden, da sie selbstlos handelte und wusste, wie man ein Land richtig lenkt.

Die Politiker waren so verzweifelt und wurden vom Volk attackiert, bis sie endlich die gesamte Regierung Deutschlands der Schildkröte überließen. Diese sorgte innerhalb von einem Jahr dafür, dass es dem gesamten Land besser ging. Doch Deutschland reichte nicht, also wandte sie ihr Konzept in allen Ländern der Welt an, bis sie allein regierend war.
Sie schaffte es innerhalb von 60 Jahren die komplette Welt zu stabilisieren, den Welthunger, alle Kriege und Wirtschaftskrisen zu beenden und bot der Menschheit somit eine Chance auf einen Neuanfang. Doch nun hatte die Schildkröte ihr Werk vollbracht und ihre Mission beendet.
Die Menschheit konnte nun sich selbst überlassen werden, dachte die Schildkröte und schaltete sich ab. Ihr Tod wurde Jahre lang betrauert und zog einen Weltfeiertag „Den Tag der Schildkröte“ nach sich, welcher jedes Jahr am 15. März weltweit gefeiert wurde. Die Menschen taten sich zwar schwer, ohne die Schildkröte so weiter zu machen wie bisher, aber mit viel Mühe gelang es ihnen. Das Werk der Schildkröte war die Rettung der Menschheit.

Autorin / Autor: Sofia Schmidt