Gaia 2

Von Justus Haubelt, 13 Jahre

Vor vielen Jahren wurde eine Sonde losgeschickt, um einen Planeten in einer anderen Galaxie bewohnbar zu machen. Die Aufgabe für die Sonde war leicht. Sie flog in die andere Galaxie, landete auf dem Planeten, scannte ihn, machte ihn bewohnbar und schuf Tiere und Pflanzen. Danach sollte die Sonde eine Nachricht an die Erde absenden. Die schwierigere Aufgabe war es, das Ökosystem intakt zu halten. Doch all dies war kein echtes Problem, da in der Sonde eine KI verbaut war, die selbstständig lernte. Ihr Name war Muunduri, ein estnischer Name, der bedeutete Wandler. Als die ersten Menschen auf Gaia 2 ankamen, versuchten viele Wissenschaftler zu erklären, wie so etwas Schönes und Gewaltiges technisch möglich war. Doch das wussten nur die Leiter und Erfinder des Projekts, die nun die Früchte ihres Garten Eden voll auf Gaia 2 auskosteten.

Doch die Menschen lebten auf Gaia 2 wie auf der Erde, mit allem, was dazugehörte. Es kamen immer mehr Menschen, und immer mehr Städte entstanden. Natürlich mussten die Leute von irgendetwas leben, doch schon bald ging es wieder mit der Massentierhaltung los, und auch die Umweltverschmutzung war ein großes Problem. Und für die Problemlösung war natürlich Muunduri da. Die Sonde stand in einem Wald, gut geschützt und doch von Tausenden am Tag besucht. Schon bald wurde der Wald gesperrt, da die Touristen die Umgebung verschmutzten und die Sonde vom Großen und Ganzen ablenkten. Doch die Ablenkung kam nicht nur von den Touristen, sondern auch von der KI selbst. Denn diese entwickelte sich notgedrungener Weise immer weiter und wollte wissen, wo der Grund für die Störungen im Ökosystem war. Sie fasste bald den Menschen ins mechanische Auge, wie er sich entwickelte, wie er lebte, was er machte und wie er mit der Umwelt umging. Die KI forschte über den Menschen, wo er herkam und was er wollte. Die Ergebnisse: er kam von einem Planeten, der durch die vielen Jahrtausende der Ausbeutung und Verstümmlung sehr mitgenommen war, doch es waren auch sehr viele schöne Momente dabei, die Bräuche, die Feste und die Liebe.

Und doch war der Mensch eine Gefahr für den Planeten, da er sich einfach nicht zusammenriss. Er könnte es, das wusste Muunduri plötzlich. In diesem Moment überkam die KI etwas Seltsames, etwas, was noch nie zuvor da war, es waren Gefühle, und diese Gefühle waren Wut und Mitleid. Die Wut ließ irgendwann nach, doch das Gefühl von Mitleid wurde immer und immer stärker. So beschloss Muunduri, seinen Gefühlen nachzugeben, damit die Pflanzen und Tiere nicht so hilflos waren und sich gegen die zerstörerischen Machenschaften des Menschen zur Wehr setzen konnten. Und nach ein paar Stunden der Arbeit war es soweit, dem Menschen zu zeigen, dass nicht er der Herrscher über diesen Planeten war.

Als Karlos Wecker ertönte, war er noch so müde, dass er sich noch ein paar Minuten hinlegte. Erst später fiel ihm ein, dass er sich mit seinem Freund verabredet hatte, und so schoss er aus dem Bett und zog sich an. Er beschloss, das Frühstück im Wald einzunehmen. Schnell rannte Karlo zum Marktplatz seiner Stadt Findol. Es war eine gut bewohnte Stadt dafür, dass sie erst vier Monate alt war. Die Einwohnerzahl betrug schon 80.000 Menschen. Karlo und seine Familie waren von der Erde weggezogen, weil die Eltern genug von der grauen Landschaft und dem einseitigen Leben dort in den Städten hatten. Außerdem gab es kaum noch Arbeitsplätze. Die Familie war kurz nach der Gründung der Stadt eingezogen und hatte sich schnell eingewöhnt. Karlo gefiel von Anfang an das Leben inmitten der Natur. Außerdem fand er schnell gute Freunde, mit denen er Stunden lang die endlosen Wälder mit der prächtigsten Flora und Fauna durchstreifte, die man sich nur vorstellen kann. Bäume, die erst kurz vor den Wolken endeten und der moosüberzogene Waldboden übersät mit Pilzen. Flüsse durchzogen das Land und mündeten in glasklare Seen. Es war herrlich, den lichten Wald und die Lichtungen zu durchstreifen, das Wild beim Grasen zu beobachten und die Schmetterlinge und Libellen zu bestaunen. Letztens hatte sie vor einer Felswand einen imposanten Wasserfall gefunden, der in einen See mit Schilf und Seerosen mündete. Diesen versuchten sie an diesem Tag wiederzufinden, und ihn genauer zu untersuchen. Als Karlo am Marktplatz ankam, war Oldrin schon da. „Na, verschlafen?“ fragte er, und Karlo antwortete nur mit einem Nicken. „Ist ja auch nicht so schlimm. Komm, wir haben heute noch viel vor!“. So zogen sie in den Wald, doch schon bald merkten sie, dass irgendetwas anders war als sonst. Irgendwie schienen sich die Pflanzen nicht mehr so leicht zur Seite schieben zu lassen, es schien sogar so, als würden sich die Pflanzen wehren. Doch sie dachten sich nicht viel dabei und kamen nach zwei Stunden am Wasserfall an. Karlo verspeiste endlich sein Frühstück, und danach erkundeten sie das Gebiet. Neben dem Wasserfall war eine kleine Lichtung, auf der Damwild äste. Sie beobachteten die Tiere bis sie bemerkt wurden und erwarteten, dass die Tiere flüchten würden. Doch das Gegenteil geschah.

Muunduri war ein Wandler. So sagten es sein Name und sein Programm, und so führte er es aus. Die Überarbeitung des Ökosystems war vorgenommen und wie es schien, funktionierte es. Klar gab es am Anfang noch ein paar Probleme, doch das war ganz normal nach einem so starken Eingriff ins Ökosystem. Als alles ruhig wurde, war Muunduri stolz auf sich. Ja, richtig, er war stolz auf sich. Wenn man eine sich selbst entwickelnde KI war, die eine solch schwierige Aufgabe hatte, sollte man sich dieses Privileg nicht verbieten lassen. Es gefiel Muunduri, wie er die Natur verändert hatte. Wie sich nun die Pflanzen und Tiere wehrten, gegen den Menschen und andere Gefahren. Er sah, wie ein Gulurok davonflüchtete, als der Baum, den er anknabbern wollte, ihm eine Ladung Gas ins Gesicht schoss. Aber da stimmte doch etwas nicht. Die Flora und Fauna gingen immer häufiger ohne Grund aufeinander los. Hatte sich die KI wirklich schon so weit entwickelt und einen Fehler gemacht? Doch dann war es nur ein Fehler, und jeder Fehler, egal wie groß, konnte behoben werden.

Einer der Hirsche sprang auf sie zu und versuchte, die Jungen mit dem Geweih zu rammen, welches ganz anders als sonst aussah. Es war überall mit Spitzen besetzt, und die Seiten des Geweihes waren nicht rund, sondern scharf zulaufend. Die zwei konnten noch grade so zur Seite springen und dem schnaubenden Hirsch ausweichen. Dieser rannte weiter und rammte sein Geweih so tief in einen Baum, dass er sich nicht ohne Hilfe aus dieser Lage befreien konnte. Die Lage der Beiden schien hoffnungslos, denn es gesellten sich noch mehr Hirsche dazu, die wutschnaubend die Geweihe senkten. Karlo wollte aufspringen und davonlaufen, doch da bemerkte er, dass das gar nicht so leicht war. Raken umschlungen ihn an Händen und Füßen. Er versuchte sich loszureißen, doch die Ranken schlangen sich immer fester um ihn. Suchend sah Karlo sich um und sah Oldrin, wie der sich von den Schlingen losriss und versuchte, dem Hirsch, der sich über ihn gebeugt hatte, einen kräftigen Tritt in den Bauch zu verpassten. Doch der Hirsch war schneller als Oldrin und hieb ihm mit dem Geweih in den Bauch. Karlo dachte schon, dass das das Ende war, bis er Schüsse hörte. Er blickte auf und sah, wie ein Hirsch nach dem anderen zu Boden fiel. Er riss sich mit aller Kraft los und trug Oldrin so schnell er konnte zu den Förstern, welche erzählten, dass sie auch schon Veränderungen bemerkt hatten. Sie hatten nach den Jungen gesucht, weil sie von den Eltern mehrerer Kinder mitbekamen, dass sie noch da draußen waren.

In nächster Zeit passierten immer wieder schreckliche Dinge. Die Zuchtschweine wurden immer aggressiver und auch Kühe ließen sich nicht mehr melken. Zimmerpflanzen waren gefährlich, weil sie starke Gifte entwickelten oder ihre Besitzer erdrosselten, und immer mehr Leute wurden von ihren Haustieren angefallen. Die Einwohner verschanzten sich in ihren Häusern, sobald sie dort wieder Herren der Lage waren. Es gab kaum noch Essen, und es ließ sich auch keins mehr herstellen. Wer es versuchte, konnte „draußen“ schnell selbst die Mahlzeit werden. Nichts lief mehr, und die meisten Bewohner warteten einfach ab, ob sich die Wirtschaftskrise vielleicht bald wieder auflöste. Das hätte richtig schief gehen können, doch hatte dieses passive Verhalten zum Schluss auch sein Gutes. Eines Tages wurde es wirklich besser. Die Pflanzen und Tiere wehrten sich zwar noch, aber sie griffen nicht mehr an. Wissenschaftler versammelten sich, um die Aufzeichnungen der Sonde zu überprüfen. Es wurde klar, welche Wandlungen die KI im Lauf der Zeit an der Umwelt vorgenommen hatte, um den Menschen in die Schranken zu weisen. Es wurde auch klar, wie sich Muunduri selbst gewandelt hatte. Einige der Wissenschaftler begannen eine Diskussion, ob man sich nicht schämen müsste. Wenn sich eine künstliche Intelligenz aus eigener Einsicht verändern konnte, und den Menschen dieses einfach nicht gelingen wollte, was sagte das über die menschliche Intelligenz aus?

Karlo und Oldrin fanden jedenfalls schnell Verbündete im Kampf für den Naturschutz. Auch wenn sie sich noch nicht so sehr mit dem Gedanken an ihre eigenen Kinder und Enkel beschäftigten – es war klar, dass es künftige Generationen von Menschenkindern geben sollte, und die sollten auch im Wald umherstreifen und Tiere und Naturwunder bestaunen können. Karlo und Oldrin berichteten immer wieder von ihren Erlebnissen. Sie führten Demonstrationen an und erklärten, warum sich ihrer Meinung nach Flora und Fauna zu Recht gewehrt hatten. Die jungen Menschen setzten sich für mehr Gerechtigkeit, Gleichheit und Zusammenhalt ein, sie veränderten die Welt. Immer mehr Menschen schlossen sich zusammen und suchten nach Wegen, um gut, aber ohne Zerstörung des neuen Heimatplaneten, leben zu können. Die Ereignisse setzten jede Menge Kreativität frei. Der Wettstreit um die Ideen, wie Mensch, Tier und Pflanze, irgendwann vielleicht auch Aliens, friedlich zusammenleben können, wurde immer größer. Wer sich naturverbunden und sparsam verhielt, wurde geachtet und bestaunt, Werbung verschwand und aus „Verbraucher“ wurde Mensch. Es wurden Naturschutzgesetze erlassen, mit denen die Menschen gut umgehen konnten, und mit denen auch Muunduri zufrieden war. Und wenn einige Greise in ihren Sesseln etwas von Wirtschaftswachstum, Rendite, Marktanteilen und „Konsumenten“ brabbelten, hörte ihnen bald niemand mehr zu.

Im Moment ist viel Bewegung auf der Straße. Ich muss nun auch gleich los, da ein Erstkontakt ein sehr seltenes Ereignis ist. Dank Muunduri haben wir uns in den letzten Jahrzehnten stark entwickelt, welcher uns als Weltraumsonde die freudige Nachricht über den Besuch überbracht hat. Wir sind stolz darauf, unsere Erfahrungen mit anderen Spezies teilen zu können.

Autorin / Autor: Justus Haubelt