Erkenntnis Mensch

Einsendung zum Schreibwettbewerb Dr. Futura im Wissenschaftsjahr Gesundheitsforschung

„Herr Doktor, Herr Doktor, es geht schon wieder los“, klagt es laut schallend aus dem Wartezimmer. Widerwillig erlaubt sich der Doktor einen Blick über die Schulter. „Nanu, was machen Sie denn schon wieder hier?!“ entgegnet er dem noch immer schreienden Patienten mit einem süffisanten Lächeln, welches der Patient nicht bemerkte.
„Ich glaube, mich hat es erwischt“, beklagt sich der Patient schweren Herzens, der sich noch eben fast die Lunge aus dem eignen Leib geschrien hat. Der Doktor, heute in einen weißen Smoking gekleidet und auf den feinsten Lederschuhen unterwegs, versucht den Patienten zu beruhigen: „Nun warten Sie erst mal ab. Sie werden sicher gleich aufgerufen“. Nach endlos langen Stunden des Wartens kommt  dem Patienten Wehwehchen der Gedanke auf, dass es so nicht weitergehen könne. Schließlich habe er die For-Life Karte.

Zweifel kamen in ihm auf. Wozu hatte er denn sein ganzes Geld investiert. Um jetzt hier in diesem klobigen und nahezu peinlich steril wirkenden Wartezimmer seine kostbare Zeit zu verbringen? Dies könnte ja wohl nicht angehen!  Ja wirklich, eine Unverschämtheit!  Doch dann kam er, während er sich noch mehr über sich selbst ärgerte als dass er Schmerzen hatte, der erlösende Moment. War es  denn nur ein Schein? Oder wirklich Sein? Doch ganz sicher, sie war es. Die nette Dame vom Empfang. Etwas kräftig und ziemlich eigenartig, aber doch die Erlöserin in Person. Fast wie ein kleines Kind, das an der Hand von der eignen Mutter geführt wird, wurde Wehwehchen von der Empfangsdame in einen weit abgelegenen Raum  abgeschleppt. „Ja, was ist das denn hier los?“, fragte sich dieser sogleich, als er den Raum betrat. „Meine Liebe, das ist ja wohl ein schlechter Scherz. Das hat doch nichts mit einem Behandlungszimmer zu tun. Hier würde sich die Crew von Star Trek wohl fühlen. Aber ich, ich will doch einfach nur behandelt werden.“  Ob die Dame einfach nur taub war oder ob sie nicht zuhören wollte, wusste er nicht. Dennoch nickte sie zustimmend und verließ den Raum so scheinheilig, wie sie eben noch aus dem Nichts gekommen war.

Nun war er allein. Völlig allein. Beinahe aufgeschmissen zwischen diesen eigenartigen Gerätschaften. War es nun ein Schutzbunker oder doch nur ein Hobbykeller eines Science-Fiction-Freaks, der am liebsten jetzt schon im 22. Jahrhundert seine Zeit verbringen wollte. Ein Urteil mochte sich Wehwehchen nicht erlauben. Vielmehr war er jetzt seinen bestialischen Schmerzen ausgesetzt, als er das Geräusch Flur abwärts hörte. Es wurde lauter und lauter. Und dann stand er da. Die Gesundheit in Person und strahlend in seinem weißen Smoking. Der Doktor war sich bewusst, welch ein Typus von Mensch da vor ihm stand. Ahnungslos wie eh und je, wies dieser seinen Patienten Wehwehchen in seine Machenschaften ein. Schließlich sei er die erste Person, die die Vorteile der neuen Maschinen, die sich im neuen FuTuRe-Raum befanden, zu spüren bekomme. Welch eine Ehre. Hoch lebe die For-Life-Karte. Hoch lebe die Klassengesellschaft. Hoch lebe das Geld. Hoch lebe das eigene Ich. Dann hat sich die Investition ja wohl doch gelohnt, kam ihm in den Sinn. All diese tollen Geräte. Wirklich alles, was man sich in seinen schönsten Träumen nicht vorstellen kann fand man in jeglichen Ausführungen, Varianten und Farben vor. Und alles feinstens sortiert. Dennoch wollte Wehwehchen aber nichts anderes, als das ihm geholfen werde.

Zur Routineuntersuchung, die selbst einem Ottonormalverbraucher nicht vorenthalten wird, gehört das Wunderwerkzeug eines jeden Arztes. Das HELP-Phone, versehen mit unzähligen HELP-Applikationen, die frei zum DOWNLOAD stehen.
Das ganze schien Wehwehchen aber nur wenig zu interessieren. Sollte sich denn nicht endlich mal der Arzt um ihn kümmern?! Da bretterte er auch schon wehleidig los: „Ach Herr Doktor. Hier tut es weh, da tut es weh. Ich habe wirklich alles probiert. Nichts hat geholfen.“ Der Doktor nahm dies zur Kenntnis und war sich seiner Diagnose schon im Vorfeld sicher. Ein ganz klarer Fall, so klar, dass er eindeutiger nicht sein könnte. Und diese Entscheidung fällte er, bevor er eigenständig Hand angelegt hatte bzw. die Hilfefunktion des HELP-Phone benötigte. Schließlich hatte er studiert. Absolut kein Zweifel. Da kochte es in Wehwehchen auf. Man könnte gar meinen einen Uli Hoeneß vor sich zu haben, so sehr stieg ihm das Blut vor Wut in den Kopf. Auch dies bemerkte der Arzt, der sich seiner Sache noch immer sicher schien. „Aber mein liebster Herr“ - wie er nur allzu gern die Satzanfänge zu pflegen wusste - wandte dieser ein. „Vertrauen Sie mir. Ich bin doch nicht umsonst der Arzt Ihres Vertrauens oder fragen Sie da doch lieber Ihren Apotheker?!“. Das Lachen konnte sich der Doktor nicht verkneifen. Zum Scherzen war Wehwechen nicht auferlegt. Wirklich verstanden hatte er es aber auch nicht. Ein Durchschnittsdeutscher halt. In den letzten Jahrzehnten halb verblödet und krank noch obendrauf. Davon stören ließ sich Wehwehchen jedoch nicht. Warum auch? Geld macht gesund, also besteht auch kein Grund zur Panik. Als der ungeduldige Patient nun endlich zur Brieftasche griff, um den Untersuchungsvorgang zu beschleunigen, ahnte der feine Herr Doktor schon etwas und war wie vom Blitz erschlagen. Als wäre in ihm ein neuer Geist geweckt, machte er von eben jenen Maschinen Gebrauch, vor denen Wehwehchen sich fürchtete. Die neuesten Errungenschaften durchwanderten und umkreisten den Körper des Patienten. Von einer Check- oder Vorsorgeuntersuchung war hier nicht mehr zu sprechen.

„Tut das denn nicht irgendwann weh? Also, ich meine diese Dinger da“, hinterfragte Wehwehchen mit halb ernster und halb verstörter Miene.
„Ja was denken Sie denn?“,  bekam er zu hören. Der Herr Professor machte ihn darauf aufmerksam, dass dieses Zeitalter schon lange der Vergangenheit angehörte. Schmerzen, so was gibt es doch gar nicht! Nicht mehr als ein übler Softwarefehler in der Programmiersprache. Da war sich Wehwechen seiner Sache nicht so ganz sicher. Sollte er sich denn jetzt nun freuen und einfach so leben, wie es ist oder sich dem Ganzen doch etwa kritisch stellen?  Er entschied sich nicht für Letzteres, schließlich war der Tag ohnehin schon anstrengend genug. Noch mehr würde seine arme Seele nicht vertragen. Und was zur Hölle sollte er jetzt machen, fragte er den Arzt seines Vertrauens. Man stecke ja heutzutage nicht drin, in wie fern sich solche Viren im Körper entwickeln. Geschweige denn, wie schnell. Da ist wirklich alles möglich, dachte sich der grübelnde Patient. Vom Bagatellschaden bis zum Totalschaden sei alles in Erwägung zu ziehen. Aber Wehwehchen solle sich nicht den Kopf zerbrechen. Die Maschinen könnten alles. Und wenn der Doktor „ALLES“ sagt, dann meint er auch alles. Das besänftigte das Gemüt beider Seiten und als die Sorgen schon vergessen schienen, spuckte das Gerät auch schon die ersten Ergebnisse aus. Natürlich alles in 4-D. Sogar ohne zusätzliche Brille. Sachen gibt’s. Wie ein Staatsanwalt, der die Anklageschrift herunter blättert, informierte der Mann vom Fach sein Versuchskaninchen. Die Ohren gespitzt und anfällig für jegliche Form einer negativen Diagnose, hörte dieser gespannt zu und erhoffte sich nur eins: die totale Gesundheit.

Es verlief alles nach Plan. Keine Anzeichen von irgendeiner desaströsen Krankheit. Man hätte noch hundert Jahre testen können, und man hätte nichts gefunden. Also doch wieder alles für die Katz, schoss es Wehwehchen durch den Kopf. All das ganze Geld. Da will man im Leben doch nur einmal gesund sein und dann stellt man plötzlich fest: Man(n) ist gesund. Und zwar kerngesund. Vielleicht hier noch ein wenig mehr Sport und da noch ein paar mehr Gramm Gemüse zu sich nehmen, aber dennoch nichts Dramatisches. Da grinste der Doktor wie ein Schelm.
„Was haben Sie, Herr Doktor?“
„Ach, rein gar nichts, mein Liebster. Sie werden schon sehen“. Mulmig wurde ihm bei dieser Formulierung schon. Was er wohl damit meinte? Noch einmal schweifte Wehwehchens Blick durch den neuen Raum. Fasziniert und bedrückt zugleich. So wirklich gefiel ihm keine dieser Maschinen. Womöglich auch, weil keine etwas in ihm feststellen konnte, wovon er so sehr überzeugt war. Was man damit wohl alles veranstalten könnte. Grenzen schien es keine zu geben.  Allgemein fiel ihm auf, dass die Praxis ihre ganz eigene Art hat. Sei es die Empfangsdame, der Arzt oder gar die Behandlungsmethode selbst. Was Wehwehchen aber am meisten unter den Nägeln brannte, war die Tatsache, dass er eine halbe Ewigkeit warten musste, obwohl vor ihm niemand an der Reihe war. Kommentieren wollte dies keiner der Beteiligten. Dennoch beharrte er auf den ausführlichen Bericht des Arztes und dieser stimmte der Forderung ohne Einwände zu.

Wehwehchen stellte sich darauf ein, weitere Stunden im Wartezimmer verbringen zu müssen. Doch zu seiner Überraschung stellte er fest, dass der Bericht des Arztes nur wenige Minuten in Anspruch nahm. Dieser gab der Chef des Hauses seinem Patient sogar persönlich. Die Brille hatte er indessen abgesetzt und er begann zu sprechen. „Mein Liebster, das sage ich Ihnen jetzt als Mensch und nicht als Arzt. Ich kann Ihnen versichern, dass ich Sie ohne Weiteres mit all diesen neuen Errungenschaften hätte schmerzfrei kriegen können. Doch sie leiden an nichts. Genießen Sie den Schmerz, solange Sie es noch können. Manch Anderer mag Sie darum beneiden. Halten Sie sich immer vor Augen, welchen Platz Sie in dieser Welt einnehmen. Nicht mehr und nicht weniger. Sie entschuldigen mich, die Arbeit drängt.“

Nun stand er da. Allein gelassen von Gott und der Welt. Es drängte ihn hinaus ins Freie. Als er sich endlich den Weg durch die tiefen Schluchten des Gebäudes gebahnt hatte, erblickte er Tageslicht. Draußen angekommen, bemerkte er, dass ihm seine Card-For-Life aus der Tasche fiel. Als er sich nach seiner Karte bücken wollte, drohte auch noch der Bericht des Arztes sich selbstständig zu machen.  Dies bemerkte Wehwehchen rechtzeitig und erblickte verwundert die Inschrift auf der Rückseite seiner exklusiv Karte, die sich im Sonnenlicht spiegelte. Er konnte sie nur mühselig entschlüsseln. Darin stand: „Manche Dinge im Leben kann man nicht kaufen, für alle anderen Dinge gibt es die For-Life-Card.“ Als er danach feststellen musste, dass der angebliche Arztbericht nicht weniger oder besser gesagt nicht mehr als ein leeres Blatt Papier war, war er geschockt und verstand die Welt nicht mehr. Da die Sonne ziemlich tief stand, war er gezwungen seinen Kopf zu wenden. Was er dann sah, veränderte alles. Der große Schriftzug „Erkenntnis Mensch“, der sich über den gesamten Eingangsbereich hinweg erstreckte  und der ihm beim Betreten des Hauses nicht aufgefallen war, verdeutlicht die Worte des Arztes so sehr, dass in Wehwehchen ein enormer Sinneswandel stattfand, sodass er mit einem Lächeln das Gelände verließ. Wohlgemerkt, schmerzfrei!




Autorin / Autor: von Lars, 18 Jahre