Einfühlen und Eindenken

Forschung zu sozialen Fähigkeiten und wo sie im Gehirn verortet sind: Es ist nicht eine konkrete Kompetenz, die uns dazu befähigt, uns in eine andere Person hineinzuversetzen. Sie setzt sich aus vielen Einzelfaktoren zusammen, die sich je nach Situation unterscheiden.

Zu verstehen, was andere Menschen wollen, wie sie sich fühlen und wie sie die Welt sehen, das sind wichtige Fähigkeiten, die uns helfen, unser Leben zu meistern. Sie helfen uns, Freunde zu gewinnen und ein Netzwerk von Menschen zu schaffen, die uns unterstützen. Doch nicht jedem fällt der Umgang mit anderen Menschen leicht. Ein wesentlicher Grund: Die beiden wichtigsten sozialen Kompetenzen Empathie, also sich in die Emotionen des anderen hineinfühlen zu können, sowie die Fähigkeit zur Perspektivübernahme, also die Pläne und Absichten eines anderen nachvollziehen zu können, sind nicht bei allen Menschen gleich stark ausgeprägt.

Forscher_innen versuchen daher seit langem herauszufinden, was einem dabei hilft, andere zu verstehen - auch um Menschen, bei denen diese Fähigkeit schwach ausgeprägt ist, besser zu unterstützen. Schließlich ergeben sich im Alltag ständig Situationen, in denen diese beiden Fähigkeiten gefragt sind - etwa wenn wir versuchen, eine lustige Geschichte zu verstehen, die Emotionen einer Person an ihren Augen ablesen wollen oder die Handlungen einer anderen Person nachvollziehen möchten.

Allerdings erfordern all diese Situationen eine Kombination verschiedener einzelner untergeordneter Fertigkeiten. Mal müssen Blicke und Mimik interpretiert werden, mal muss der kulturelle Hintergrund oder die aktuellen Bedürfnisse des Geschichtenerzählers mitgedacht werden.

Bis heute entstanden daher unzählige Studien, die zwar Empathie und Perspektivübernahme jeweils als Ganzes untersuchten. Bislang ungeklärt blieb jedoch, was beide Kompetenzen trotz jeweils verschiedener Anforderungen im Kern ausmacht und wo im Gehirn ihre Basis liegt. Prof. Dr. Philipp Kanske vom Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS) in Leipzig und ein Team internationaler Wissenschaftler haben nun mit Hilfe einer Meta-Studie (eine Studie, die die Daten anderer Studien systematisch auswertet) ein umfassendes Erklärungsmodell entwickelt.

*Mitgefühl und Perspektivwechsel*
„Das Gehirn besitzt zwei allgemeine Fähigkeiten für das Manövrieren in der sozialen Welt. Die Empathie ist gefühlsbasiert und hilft uns, an den Emotionen des anderen teilzunehmen. Die zweite, die Fähigkeit zum Perspektivwechsel, ist ein komplexer Denkprozess, der dazu dient, sich die Umstände des anderen vorzustellen und darüber nachzudenken, was diese Person denken könnte“, erklärt Philipp Kanske. „Diese beiden abstrakten Fähigkeiten zum Eindenken und Einfühlen in Andere setzen sich wiederum aus verschiedenen Bausteinen zusammen.“

„Beide Gesamtkompetenzen werden jeweils von einem auf Empathie oder Perspektivwechsel spezialisierten ‚Hauptnetzwerk‘ im Gehirn verarbeitet, die in jeder sozialen Situation aktiviert werden, ziehen aber je nach Situation zusätzliche Netzwerke hinzu“, so Kanske weiter. Lesen wir die Gedanken und Gefühle anderer beispielsweise von deren Augen ab, sind andere Zusatzregionen beteiligt als wenn wir sie aus deren Handlungen oder aus einer Erzählung erschließen müssen. „Das Gehirn kann so sehr flexibel auf die einzelnen Anforderungen reagieren.“

Für Empathie arbeitet ein Hauptnetzwerk, das akut bedeutsame Situationen erkennen kann, indem es etwa Angst verarbeitet, mit spezialisierten zusätzlichen Regionen, beispielsweise für Gesichts- oder Spracherkennung zusammen.
Beim Wechseln der Perspektive sind als Kernnetzwerk die Regionen aktiv, die auch beim Erinnern an Vergangenes oder dem Fantasieren über Zukünftiges zum Einsatz kommen, also bei Gedanken, die sich mit aktuell nicht beobachtbaren Dingen befassen. Auch hier schalten sich in den konkreten Situationen jeweils zusätzliche Hirnregionen hinzu.

*Die richtige Balance*
Durch ihre Auswertungen haben die Forscher außerdem herausgefunden: Gerade die besonders komplexen sozialen Probleme erfordern eine Kombination aus Empathie und Perspektivwechsel. Personen, die besonders sozial kompetent sind, scheinen demnach andere auf beide Arten zu betrachten, also auf der Grundlage von Gefühlen und auf der von Gedanken. In ihrem Urteilsvermögen finden sie dann die richtige Balance aus beidem.

Ob jemand wenig empathisch ist oder unfähig, die Sichtweise des anderen einnehmen zu können, könne in einem einzigen Test darum gar nicht festgestellt werden. Manchmal sei nämlich nur ein Teilfaktor betroffen - etwa, dass eine Person die Mimik anderer oder eine Sprachmelodie nur unzureichend deuten kann.

Ehe ihr also jemanden als eiskalt oder schwer von Begriff verurteilt, macht euch klar, dass Empathie und Perspektivwechsel äußerst komplexe Vorgänge im Gehirn darstellen, die nicht bei jedem Menschen gleich (erfolgreich) ablaufen.

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Autorin / Autor: Redaktion / Pressemitteilung - Stand: 10. November 2020