Ein vergifteter Name

Fukushimas Bauern kämpfen um ihren Ruf
Ein Text von Gregor Bös

Bild: Gregor Bös

Als „Brasiliens Fukushima“ wurde ein verheerender Dammbruch im November letzten Jahres bezeichnet. Die Umweltkatastrophe in Japan ist zur Abkürzung, einem schnell verfügbaren Bild von zerstörten Landstrichen geworden. Aber Fukushima ist eben auch der Name einer Stadt, so groß wie Karlsruhe, und der Name der drittgrößten Präfektur Japans — etwas kleiner als Thüringen, aber dichter besiedelt. Diese ganze Präfektur ist zum Namen für unumkehrbare Zerstörung der Natur geworden.

Typische kleinbäuerliche Reisfelder in Fukushima

Wir sind zu Besuch bei den Ookawaras in ihrem kleinen Laden an einer Schnellstraße. Obwohl der Laden von außen sehr schlicht wirkt, fühlt man sich drinnen wie in einem hippen Berliner Stadtteil. Es riecht nach japanischem Curry und frischgebrühtem Kaffee, überall steht Handgemachtes zum Verkauf. Eine Frau aus der Nachbarschaft sieht sich nach Gemüse um, zwei Kunden plaudern an einem Cafétisch.

Tatsuko, die Besitzerin, steht am Herd und kümmert sich um das Tagesessen. Shin, ihr Ehemann, schiebt die rollenden Regale mit Broten, Reisbällchen und eingelegtem Gemüse zur Seite — denn gleich beginnt der Yogakurs. Manchmal gibt es hier auch Puppentheater, für Mittagessen und Kuchen kommen die Leute sowieso, und am Wochenende wird der Laden zur Kneipe. Die Fläche wird vielfältig genutzt, alles wirkt sehr städtisch und modern. Aber wir sind eben in keiner Metropole, sondern mitten in Fukushima.

Tatsuko und Shin Ookawara, Gründer von “Esperi”

Das große Nordostjapan-Beben, wie es mittlerweile genannt wird, ereignete sich am 11. März 2011. Im Kraftwerk an der Küste waren geforderte Dammverstärkungen nicht errichtet worden. Die Flutwelle drang ein, es gab eine Kernschmelze, und eine Wasserstoffexplosion schleuderte radioaktiven Staub in die Luft. Die japanische Regierung evakuierte die Bevölkerung im Umkreis von 20 Kilometern. Deutsche Behörden, wohl noch mit lebendiger Erinnerung an Czernobyl, drängten selbst die Bundesbürger im 300 Kilometer entfernten Tokyo zur sofortigen Ausreise. Außerdem folgte die energiepolitische Kehrtwende — nur Monate nach der Laufzeitverlängerung zur beschleunigten Stillegung aller Kernkraftwerke bis 2022.

In Japan gab es keinen solchen Beschluss, lange waren aber, insbesondere auf Druck von Lokalpolitikern, alle Kernkraftwerke „zur Überprüfung“ stillgelegt. Langsam werden aber erste Kraftwerke wieder hochgefahren, mittlerweile sind vier Reaktoren in Betrieb (zwei in Takahama und zwei in Sendai). Japan befindet sich immer noch in einer wirtschaftlichen Krise und vor Ort sind viele froh, an ihre Arbeit zurückzukehren. Aber auch bis heute fließt vom Kraftwerk Fukushima radioaktives Kühlwasser ins Meer und bereitet vielen Japanern Sorge um ihren Fisch. Keine 50 Kilometer von diesem Kraftwerk steht der Laden an der Schnellstraße. „Esperi“ heißt er — Esperanto für „hoffen“.

Eine Auslage in “Esperi”

Trotz seiner vielen Funktionen versteht sich „Esperi“ zuallererst als „Brot- und Gemüseladen“, der die Produkte der Bauern umliegender Dörfer verkauft. Die Inhaberin Tatsuko Ookawara ist eine kräftige Bäurin ohne Scheu, die selbst für die Kunden noch eine Art Mutter zu sein scheint. Sie glüht geradezu vor politischem Tatendrang: „Wir wollen ein neues Fukushima schaffen“, sagt sie. Greenpeace hat sie schon als Sprecherin nach Deutschland geflogen, und man merkt ihr die Erfahrung an, wenn sie über Fukushima spricht. Shin, ihr Ehemann, ist ein freundlicher Mann mit rundlichem Gesicht und großen Händen, der sich leise bewegt. Beide leben seit dreißig Jahren von der Landwirtschaft. Sie verstehen sich als Bio-Landwirte, weil sie statt chemischem Dünger den Mist ihrer wenigen Tiere verwenden.

Tierhaltung ist für die Ookawaras eher ein Hobby als Einkommen.

Genaue Richtlinien und Siegel findet man hier aber nicht. Was sie von den konventionellen unterscheidet, ist vor allem der Vertrieb. „Es ist sehr schwer hier, mit Gemüse seinen Lebensunterhalt zu verdienen“ sagt Tatsuko. Um dem Preisdiktat der nationalen Genossenschaft zu entgehen, gründeten die Ookawaras deshalb schon lange bevor es Esperi gab, einen kleinen Markt. Dabei verkauften sie ihre Produkte aus der Region an Leute, die lokale Landwirtschaft unterstützen wollten. Davon konnten sie lange Zeit ganz gut leben.

Am 11. März 2011 wurde aber auch das Leben der Ookawaras aus den Angeln gehoben. Weiter weg von der Küste waren sie vor dem Tsunami sicher, und das Erdbeben fiel glimpflicher aus als in den großen Städten. Die Erleichterung hielt aber nur bis zur Meldung, dass es im Kernkraftwerk eine Explosion gegeben hatte. Der Wind trieb den radioaktiven Staub zunächst aufs Meer, drehte erst spät ins Landesinnere. Doch niemand wusste, wie gefährlich es war, in Fukushima zu bleiben. Die Familie harrte aus. Das Haus der Ookawaras war weit genug vom Kraftwerk entfernt, um dort wohnen zu bleiben. Nach und nach machten sich alle daran, wieder eine Form von Alltag herzustellen. Sie bestellten Ihre Felder und brachten die Ernte zum Markt. Doch die Kunden kehrten nicht zurück. Radioaktiver Staub war auf die Äcker gefallen, und niemand vertraute dem, was dort wuchs.

Auf kleinen Zetteln wie diesen wird über gemessene Radioaktivität der Lebensmittel informiert.

„Um ehrlich zu sein: etwas das ich nicht sehen, riechen und fühlen kann, verstehe ich nicht.“ sagt Shin Ookawara. „Leute, die weit weg leben, sagen viele Dinge, und wer hier lebt, weiß nicht wem er trauen soll: der Regierung, Wissenschaftlern, oder Umweltschützern? Ich weiß es wirklich nicht. Wir möchten einfach sicher gehen, dass wir nur Lebensmittel verkaufen, die man ohne Sorge essen kann.“ Deshalb wird von allem Reis und allen Karotten, jedem Produkt eine Stichprobe in einem unabhängigen Labor untersucht, bevor etwas in Esperi verkauft wird. Das Ergebnis steht, wie eine ganz normale Nährwertangabe, auf kleinen Zetteln neben den Preisen. „Wir liegen fast nie über 10 Becquerel“, sagt Shin, nicht ohne einen gewissen Stolz.

Natürlich versuchten Behören, die Sicherheit der Lebensmittel zu gewährleisten. Beispielsweise mit viel Dünger: durch ein Überangebot an Stickstoff sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass die Pflanzen ausgerechnet die radioaktiven Isotope aufnehmen. Vielerorts wurde auch die oberste Bodenschicht abgetragen. Und das schien erfolgreich: Schon in der ersten Saison nach der Katastrophe konnte fast aller Reis aus Fukushima die offiziellen Tests bestehen. Im Jahr 2014 schließlich gab es keine einzige Probe mehr, die über dem japanischen Grenzwert von 100 Becquerel/kg lag. Das Vertrauen in das Sicherheitsversprechen von offizieller Seite wurde allerdings nachhaltig zerstört. Viele Bauern nehmen die Messungen lieber selbst in die Hand und veröffentlichen ihre Werte — ein Nachbar der Ookawaras sogar mit Kommastellen bis auf ein Hundertstel Becquerel. Ab welchem Wert er sich sicher fühlen kann, weiß aber auch er nicht. Was bleibt ist kein wissenschaftliches Problem, kein technisches, sondern eine Frage des Vertrauens.

Denn die offiziellen Grenzwerte sind schon sehr streng. Sie wurden sogar verschärft, um das Vertrauen der Bevölkerung zurückzugewinnen — vergeblich. Zum Beispiel Bananen, die von Natur aus viel radioaktives Kalium enthalten, sind allein dadurch schon mit etwa 100 Becquerel/kg radioaktiv und verstoßen eigentlich schon gegen japanische Grenzwerte — nur durch natürliche Strahlung aus Kaliumzerfällen. Im Gegensatz zu Japan erhöhte die EU im März 2011 die Grenzwerte für Lebensmittel wie Reis von 600 auf 1250 Becquerel pro Kilogramm. Insgesamt bringt ein Leben im naturbelassenen Bayern durch Kalium in Fleisch und Milch eine stärkere radioaktive Belastung durch Lebensmittel mit sich, als eine Ernährung mit Produkten aus Fukushima. Aber die zuständigen Behörden mussten nach dem Unglück viele Meldungen korrigieren. Mehrfach wurde eingeräumt, dass mehr radioaktives Material freigesetzt wurde, als man zunächst zugeben wollte. Und so schlimm es ist, dass man die unsichtbare Gefahr nicht kommen sieht, ebenso schlimm scheint es nun, dass man nicht sehen kann, ob sie noch da ist.

Wenn die Früchte noch klein sind, lässt er an jedem Zweig nur die stärkste stehen. Dann sammelt sich der ganze Saft in einem einzigen Apfel, der dann besonders prächtig heranreift. Für Obst wie die großen roten Äpfel war Fukushima einmal bekannt.

Stattdessen prangen an den Bäumen leuchtende Äpfel. Es ist Aufgabe des Sohnes Shin sich darum zu kümmern. Mit viel Ruhe schneidet er junge Früchte, bis an jedem Zweig nur noch der größte Apfel steht und voll heranreifen kann. „Früher kauften die Leute unser Obst vor allem weil es ihnen besser schmeckte, oder sie sich gesund ernähren wollten. Jetzt kaufen auch Leute, die sich sorgen um die Sicherheit ihrer Lebensmittel machen, unsere Bio-Produkte.“ Für das edle Obst war Fukushima einmal bekannt, und so soll es wieder werden. Auch privat auf Facebook zeigt Shin nicht wie die meisten seiner Altersgenossen Karaokeabende und Kurzurlaube, sondern Bilder von geerntetem Obst und Sonnenuntergänge über Fukushimas Reisfeldern.

„Wir lieben wo wir leben, und es bedeutet uns so viel — wir werden nicht weggehen“ sagt der Vater. Um das zu schaffen, mussten sie sich verändern. Kai kehrte vom tropischen Okinawa zu seinen Eltern zurück und half Ihnen, den neuen Laden aufzubauen. Aus dem Bauernmarkt wurde Esperi, und neben Gemüse gibt es nun eben auch Kaffee, japanisches Curry, Kneipenabende, und Yogastunden. Aber Esperi ist nicht nur eine wirtschaftliche Anpassung, sondern sehr politisch. Denn Esperi soll auch ein sozialer Treffpunkt sein. Neben der Möglichkeit, ein faires Auskommen für Bauern zu schaffen und den unabhängigen Strahlungsmessungen, ist das dritte Ziel, mit dem die Ookawaras ihren Laden definieren: sie wollen Leute verbinden. Vom Land und aus den Städten, Japaner und Ausländer. Tatsuko Ookawara meint, „Wir sollten nicht nur kritiseren, sondern die Leute unterstützen, die alles daran setzen, unsere Gesellschaft zu verändern.“

Geht es um Politik, steht die Mutter schnell im Vordergrund und findet schnell starke Worte. Doch auch wenn Shin und Kai ein ruhigeres Naturell haben, bleibt kein Zweifel daran, dass die die Familie in diesen Fragen zusammensteht. Wenn dafür Zeit bleibt, fahren Sie gemeinsam in die Stadt und demonstrieren. Die Ookawaras kämpfen ihren eigenen Kampf, um zu beweisen, dass es in Fukushima nicht nur tote Landschaften gibt, sondern auch noch das Obst, für das die Präfektur einmal in Japan bekannt war — bevor ein Reaktorunfall sie weltberühmt machte.

Kai Ookawara, der Sohn von Shin und Tatsuko, lebte zum Zeitpunkt der Katastrophe im Süden Japans. Er kehrte zu seinen Eltern zurück und half Ihnen, eine neue Existenz aufzubauen.

„Es gibt viele Probleme in Fukushima. Aber unsere Früchte sind gut und schmecken großartig“, sagt der Sohn. „Wir möchten sie gerne teilen.“

Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Wettbewerbes

Autorin / Autor: Text & Fotos: Gregor Bös - Stand: 1. Juni 2016