Ein Leben in Ewigkeit

Einsendung zum Schreibwettbewerb Dr. Futura im Wissenschaftsjahr Gesundheitsforschung

»Mit welchem Problem kommen Sie denn zu mir, Frau Hausmann?«, fragt mich der Doktor, nachdem ich seine luxuriöse zweihundert Quadratmeter Praxis betreten habe und auf der hochmodernen Sitzlandschaft bei Kaffee und Kuchen platz genommen habe. Ich nehme einen Schluck Kaffee aus der mir servierten dampfenden Porzellantasse und sage: »Ich möchte ein Kind bekommen.« Stille. Dann folgt lautes Gelächter. »Ich habe Ihnen fast geglaubt, dass Sie das Ernst meinen.« quakt der Doktor noch immer nach Luft ringend. »Es ist mein voller Ernst.«, sage ich mit ernster Miene. Das Lächeln des Doktors verschwindet aus seinem Gesicht. Seine bisher noch heitere Stimme fragt mich nun mit tiefster Besorgnis, wie ich auf eine so dumme Idee käme. »Wissen Sie, ich bin nun vierhundertzwölf Jahre alt, habe erst zweihundert Jahre Karriere als Anwältin und danach einhundertfünfzig Jahre als Journalistin gemacht. Ich habe einen Mann, ein Haus und einen Hund. Ich habe alle meine Ziele im Leben erreicht. Jetzt habe ich alles hingeworfen, weil es mich mit der Zeit gelangweilt hat. Meine Kindheit ist so lange her, dass ich mich gar nicht mehr daran erinnern kann. Ich brauche etwas Neues. Eine Herausforderung. Ich möchte gern Mutter werden.«
Der Doktor zieht seine rechte Augenbraue nach oben, runzelt die Stirn, kratzt sich am Hinterkopf und sagt dann ganz ruhig: »Frau Hausmann, Sie waren der letzte Mensch auf der Erde, der geboren wurde. Seitdem alle Krankheiten geheilt sind und man den Alterungsprozess komplett gestoppt hat, braucht unsere Welt so etwas wie Nachwuchs nicht mehr. Vielleicht kennen Sie aus Erzählungen wie schlimm die Welt noch im Jahr 2000 war. Krankheiten wie Aids, Krebs oder Grippe waren tödlich für unsere Vorfahren. Auch ich hatte als Kind vor fünfhundert Jahren eine Erkältung, kurz bevor man das Allheilmittel gegen alle Krankheiten entwickelt hat. Doch nun ist unsere Welt frei. Frei von diesen sogenannten Krankheiten. Früher sind Menschen gestorben. Dafür mussten neue geboren werden. Heute stirbt niemand mehr und aus diesem Grund bekommen die Menschen auch keine Kinder mehr. Dazu haben wir auch nicht mehr die Möglichkeit. Wir sind genug Menschen auf der Welt. Die einzigen Probleme die ich behandle ist das Aussehen der Leute. Kommen Sie wieder, wenn Sie vollere Lippen oder größere Brüste möchten.«
Kommentarlos verlasse ich seine Praxis. Wie hypnotisiert lege ich mich auf die Wiese in den Park und starre in den Himmel. Die Wolken ziehen vorbei und ändern ihre Form, schließen sich zusammen und lösen sich wieder auf. Wolken. Vergänglichkeit.
Das Klingeln meines Handys reißt mich aus meinen Gedanken. Es ist Jenny, meine beste Freundin seit über achtzig Jahren. Nachdem ich sie begrüßt habe, merkt sie sofort, dass mit mir etwas nicht stimmt und fragt was mich beschäftigt. Ich erzähle ihr von meinem Kinderwunsch und auch sie bricht wie der Doktor in schallendes Gelächter aus. »Ich habe in letzter Zeit schon oft gemerkt, dass mit dir etwas nicht stimmt.«, unterbricht sie ihr Lachen. »Wie meinst du das?«, frage ich sie. Sie erzählt mir stundenlang von einer Bekannten, die sich jahrelang eigenartig verhalten hat und niemand wusste was in ihr vorgeht. Nach etlichen Jahren habe man festgestellt, dass sie an Depression leide und nicht wüsste, was sie mit ihrem Leben anfangen könnte.
»Meinst du ich leide an Depressionen?«
»Das weiß ich nicht, vielleicht solltest du mal mit einem Spezialisten darüber reden. Der Kopf ist schon eine komische Sache. Nur weil der Körper gesund ist heißt es nicht das man gesund ist, verstehst du was ich meine?«
Ich überlege eine Weile, starre in den Himmel und verstehe, was Jenny mir sagen will. Ich habe alles bewältigt, was ich bewältigen wollte. Ich habe meine Ziele erreicht. Nun ist mir langweilig und das macht mich depressiv. Wenn man es schon geschafft hat, körperliche Krankheiten zu heilen, warum forscht man dann nicht an geistigen Problemen? Ist die Welt wirklich besser ohne Krankheiten?
Ich lege auf ohne mich von meiner besten Freundin zu verabschieden. Ich muss mit jemanden reden, der die Welt noch kennt in der die Menschen um ihre Gesundheit bemüht waren. Eine Zeit in der Bücher über gesunde Ernährung, Vorbeugungen von Herzinfarkten oder Bluthochdruck geschrieben wurden. Ich besuche meine Oma. Ich erzähle ihr von meinem heutigen Tag, von meinem Kinderwunsch und von der Befürchtung einer Depression. Sie versichert mir, dass meine Gedanken ganz normal sind und ich mir keine Sorgen machen muss. Sie sagt, das Leben sei wie eine Packung Pralinen – man weiß nie was man bekommt. Aber irgendwann ist die Packung leer und die Menschen beginnen unglücklich zu werden.
»Krankheiten gibt es nicht mehr und trotzdem sind die Menschen unglücklicher als zu Zeiten, in denen sie es noch gab.«
»Willst du damit sagen Krankheiten sind etwas Gutes?«
»Um Himmels Willen nein! Ich möchte damit sagen, dass das Leben ein Geschenk war, das wir nutzen sollten. Es war vergänglich. Leben und Tod gehörten zueinander wie Feuer und Wasser. Glück und Leid. Durch die Endlosigkeit hat das alles an Bedeutung verloren und das Leid auf dieser Erde ist gewachsen, psychisch und nicht physisch. Wir haben vergessen, das Leben und die Vergänglichkeit zu schätzen. Weißt du Liebes, irgendwann haben es die Menschen mit der Gesundheit übertrieben und man hat die Natürlichkeit von Leben und Tod vergessen. Als ich Kind war, sagte meine Mutter immer: ‚Lebe jeden Tag, als wenn es dein letzter wäre!’ Aber das gilt nun nicht mehr. Wir haben Zeit. Wir haben die Ewigkeit.«

Autorin / Autor: Mattin, 20 Jahre