Die Unvollkommenen

Autorin: Theresa Hannig

„Wenn man aufhört, die Dinge beim Namen zu nennen, dann hört man auf, sich ihrer Bedeutung bewusst zu sein.“
Im Roman „Die Unvollkommenen“ von Theresa Hannig herrscht dem äußeren Anschein nach Frieden in der Optimalwohlökonomie der Bundesrepublik Europa 2057, nach eigenen Nachrichten der einzige Ort, der sicher sei vor menschengemachten Problemen wie dem Klimawandel.

Roboter leben mit den Menschen gemeinsam, die Regierung wird von einer Künstlichen Intelligenz, Samson Freitag, gestellt. Für ihn ist jederzeit alles sichtbar, hörbar und beeinflussbar. In den Bürgerprofilen zählen vor allem die Sozialpunkte und ‚Wohltaten‘. Wer Fehler macht, wird nach Optimalwohlentscheidungen gerichtet (auch wenn das so nie gesagt wird). Es gibt daher in Theresa Hannigs Roman auch keine Prozesse oder anwaltliche Vertretungen.
Paula Richter, die Lila genannt wird, ist die ehemalige Vorsitzende der Revolutionsgarden. Gemeinsam mit Eoin Kophler, einem ehemaligen Roboterforscher, flieht sie aus dem Gefängnis mit dem Namen Villa Baltic. Sie stellen daraufhin bald fest, dass die Menschen außerhalb der Villa Baltic auch nicht viel mehr Freiheit haben. Denn „es ist eine unendliche Grausamkeit“, wenn gute Laune verordnet ist. Es ist ähnlich zu der Villa Baltic, es ist nicht das, was es scheint.

Jeder noch so kleine menschliche Fehler wird vor aller Augen rausgezerrt. Das nennt sich dann zum Beispiel ‚Persönliche Richtung‘. Es wird so versteckt, was die gute Laune draußen wirklich bedeutet und auch dass die Villa Baltic ein Gefängnis ist, da die Menschen dann weniger aufbegehren können. Denn von außen betrachtet, geht es ihnen doch bestens: Wie Lila es ausdrückt, sind sie fast gemästet an Gutem, „auch wenn ihr Zimmer keine Gitter besaß und sie keine sichtbaren Ketten trug, war sie doch eine Gefangene“. Es ist hinter all den netten Worten sehr deutlich, dass weder Lila noch sonst jemand in der Bundesrepublik Europa eine freie Wahl hat.
Interessant ist auch, dass vor allem Kontrolle durch das zu viel an Emotionen und Gedanken bewirkt wird, durch Überreizung. Daher auch die Beschimpfung „Privatmann“ für alle, die nicht immer beobachtet werden wollen. Deshalb auch die Worte der Künstlichen Intelligenz Homunkulus, einer der Versuche, wie Samson Menschen und Roboter zu verbinden versucht, dass Wissen, das als einziger Glaube eingesetzt wird, alles wissen wollen, Tyrannei sei, „absolute Diktatur“. Denn es gibt dort keine Wahl mehr, keine Entscheidung.

Wie Lila bemerkt, ist das Schlimmste daran eigentlich, dass nicht mal böse Absichten dahinter stehen. In diesen gar nicht bösen Absichten sind am Ende aber alle gefangen, auch Samson selbst.
Eine Gegenfigur dazu ist Anna Freitag, eine sehr politische, immer lesende und Papier liebende Theaterwissenschaftlerin und Journalistin, die Samsons Mutter war, als er noch ein Mensch war und für mich eine der beeindruckendsten Personen in „Die Unvollkommenen“ ist. Sie stellt sich klar gegen all die Überwachung und auch gegen den Robotermensch Samson, was wiederum ihn nicht loslässt.

Samson zerstört durch seine guten Absichten dabei genau die Menschen, die ihm wichtig sind und setzt alle unter eine noch viel größere Gefahr. Die große Gefahr des Immer-gesehen-seins, Immer-bewertet, eine ewig auferlegte Rolle.
Interessant daran ist, dass der Roman auch zeigt, dass erst durch dieses „Alles-sehen-können“, immer, auch Gewalttaten wie Terrorismus so wirksam werden. Das Ziel ist immer Angst und durch die Berichte kann genau die ausgelöst werden. Es ist ein Roman, der auch zeigt, dass Schutzmaßnahmen gegen Gewalt und Terror und für eine menschlichere Welt, genau das Gegenteil bewirken können. Durch „Die Unvollkommenen“ kommt auch die Frage auf, ob nicht alle Menschen Momente brauchen, in denen sie nur da sein dürfen. Momente in denen Menschen nur als Person da sind, ohne dass gleich ihre ganze Vergangenheit im Raum steht und vermutetes Verhalten und ob wir nicht daran zerbrechen, wenn wir nicht alle unvollkommen sein dürfen.

Das Unvollkommene spiegelt sich in Sätzen wie diesem, der einen das Kuriose trotz allem sehen lässt: „In einem Tonfall, in dem ein Kellner fragen würde, ob die Bestellung gerade wirklich Bananeneis mit Sauerkraut war.“


*Erschienen bei Lübbe Belletristik *

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Autorin / Autor: Sabrina Bowitz - Stand: 4. Februar 2022