Die rosarote Brille

Von Mara Aufdermauer, 13 Jahre

Ikaron schlug seine Augen auf und massierte sich die schmerzenden Nasenflügel. Mal wieder waren seine Träume verwirrend und düster gewesen. Selbst die Tabletten, die Akira ihm gegeben hatte, konnten ihn nicht vor den so lebendig wirkenden Visionen bewahren. Die gedämmten Lichter wurden langsam heller, trotzdem kniff Ikaron die Augen zusammen, als auf seiner Brille die Anzeigen auftauchten, denen er in der Nacht zuvor zu entkommen versucht hatte.

Wenn man sich nach dem Aufwachen beeilte, ans Fenster zu treten, konnte man einen wahrhaftigen Sonnenaufgang erleben, mit grellen Rot- und Gelbtönen, bis hin zu den weißen Wolken, die von den dunklen Strichen des Himmels getrennt wurden. Dieser Anblick hielt nur für wenige Sekunden, dann fuhren die Systeme in der Brille hoch und dimmten das grelle Licht, erinnerten ihn an die Termine, die der Tag mit sich brachte.

Doch nun zierte ohnehin noch die Dunkelheit des Winters den Himmel, weshalb Ikaron sich nicht die Mühe machte, aufzustehen. Die Brille hatte nachts in seine Schläfe gedrückt, doch Akira meinte, dass Kontaktlinsen einen neuen Zugang zum Gehirn bräuchten und er hatte zu viel Angst vor den Kabeln, die durch sein Auge führen würden. Die Brille konnte direkt an einen Hauptstrang anknüpfen, der ins Gehirn führte, daher benötigte man nur eine winzige Verbindung. Doch bei den Kontaktlinsen wäre diese deutlich länger und – das wurde die Brille nicht müde, ihm auf dem Bildschirm anzuzeigen – auch sehr gefährlich, wenn man Wasser in sein Auge bekäme.

Ikaron hasste die Brille dafür, dass sie ihn von der Außenwelt trennte und durch ihre „Verbesserungen“ der Realität seine Gefühle veränderte. Er gehörte zur Burtengeneration, die direkt nach ihrer Geburt eine Brille eingepflanzt bekommen hatte, womit sie sich leichter an ihr Leben gewöhnen konnte, als die, die ihr Leben... richtig gelebt hatten. Nicht mit einem Bildschirm, der sie immer begleitete, und ohne Illusionen oder dem Wissen, dass ihr Puls zu schnell ging. Ihr Alltag wurde nicht von einem Programm gelenkt, sondern von ihren eigenen Entscheidungen und seien diese auch fehlerhaft.

Eine Erinnerung tauchte auf dem Bildschirm auf: Er musste sich für die Schule bereitmachen, ansonsten würde er die Arbeit verpassen und die Lehrer dürften auf seine Brille zugreifen, um zu sehen, was er gemacht hatte. Sie würden sehen, dass er verzweifelt an die Decke gestarrt hatte, doch sie würden niemals verstehen, weshalb solch finstere Gedanken sein illusionsgetrübtes Gehirn durchstreift hatten.

Als er seine Schuluniform angezogen hatte und sein Zimmer verließ, zeigte seine Brille eine Verspätung des Busses an und fragte ihn, ob er ein Taxi bestellen wolle. Er schickte einen verneinenden Gehirnstoß aus, die Nachricht verschwand und er hatte wieder freie Sicht auf Akira, die am Frühstückstisch saß und ein Brot vorbereitete. „Guten Morgen Ikaron, dein Puls hat sich heute Nacht beschleunigt, hattest du wieder einen Alptraum?“ Er seufzte nickend und ließ sich auf den Stuhl fallen, vor dem ein Teller stand. „Möchtest du einen Apfel oder ein Käsebrot?“ „Haben wir auch Salami?“ „Ja.“ „Kann ich dann ein Salamibrot?“ „Aber du weißt doch, dass du schon gestern Fleisch gegessen hast.“ „Ja, und?“ „Es wäre für deinen Körper nicht von Vorteil, nun noch mehr davon zu essen.“

Ikaron ballte seine Hände leicht zu Fäusten und starrte Akira an. Ihre mütterlichen Augen und die lächelnden Lippen hatten nichts Menschliches an sich, eher ähnelte sie einer dieser gruseligen Puppen, die er auf dem Cover eines neuen Horrorfilms gesehen hatte. Alle seine Freunde hatten davon erzählt, doch er war noch nicht sechzehn, was hieß, dass seine Brille sich jedes Mal verdunkelte, wenn er versuchte, den Film zu gucken. „Einen Apfel.“, murmelte er und schob die Werbeanzeige für eine Metzgerei beiseite. „Ich habe gestern für das Programm Lehrerbewertung bezahlt und erfahren, dass dein Physiklehrer dich für zu still hält, dasselbe bei deinen Deutsch- und Mathelehrern.“ Ikaron unterdrückte ein Augenrollen. Vor acht Jahren hatte die Regierung entschieden, dass es einfacher und für elternlose Kinder vorteilhafter sei, Roboter für sie zu bauen, die die Liebe und Erziehung ersetzten. Ersteres konnte Ikaron nicht einschätzen, jedoch war er sich bei letzterem sicher, dass Akiras Programmierung zu streng war, was seine Gesundheit und Ausbildung angingen. Er seufzte und erhob sich. „Ich werde zu spät kommen, der Bus kommt in wenigen Minuten.“ „Ich habe dir ein Taxi gerufen.“ „Das solltest du...“ „Ich wurde vor Überfällen auf Passanten und Schüler gewarnt, der Fahrer wird dich direkt zur Schule bringen.“

Ikaron wollte niemandem von Ryan erzählen, am allerwenigsten Akira. Er wusste, dass er in einem Gebiet lebte, in dem jedes Paar durchschnittlich ein Kind bekam. Deshalb hatte die Regierung bei jeder Brille ein Programm installieren lassen, das die Heterosexualität und die Kinderrate steigern sollte. Doch Ikaron wusste, dass es nicht funktionierte, denn schon seit fünf Monaten schlug sein Herz beim Anblick von Ryan schneller und sein Mund wurde trocken, selbst wenn er etwas trank. Als er die Klasse betrat und sich in das Programm der Schule einloggte, bemerkte er einige Soldaten, die neben dem Pult des Lehrers standen und die Schüler kalt musterten. Als sich die letzten hinsetzten, begann der, der dem Lehrer am nächsten stand, zu sprechen: „Guten Morgen, verzeiht uns die Verspätung des Unterrichtsbeginns, doch wir wurden angewiesen, eine Untersuchung durchzuführen. Der Regierung werden immer mehr Vorfälle gemeldet, bei denen Menschen sich gegen die Brille wenden und ohne jede Vernunft handeln, die die Brille ihnen eigentlich hätte beibringen sollen. Wir nennen so jemanden einen Widerständer, jemand, dessen Brille nicht in sein Nervennetz eingreifen kann und der somit aus freiem Willen handelt. Da ihr die Zukunft der Area 267 seid, müssen wir feststellen, ob ein Widerständer unter euch ist. Es wird nicht mehr als zehn Sekunden dauern und nur bei Widerständern ist dies schmerzhaft, da sich ihr Nervennetz noch nicht unterworfen hat. Ihr müsst nun kurz eure Brille herunterfahren.“

Ikaron hielt den Atem an. Er hatte noch nie die Klasse ohne den Schleier der Brille gesehen, geschweige denn die Schule. Nur Soldaten, Richter und die Regierung durften die Genehmigung geben, die Brille auszuschalten und mit keinem von diesen hatte er bisher etwas zu tun gehabt. Gebannt schielte er zu Ryan, der gelangweilt den Kopf in die Hand stützte. Als Ikaron seine Brille auf sein Gesicht fokussierte, bemerkte er, dass der Junge kurz zu einem Mädchen in der ersten Reihe blickte und dann lächelnd seinen Kopf senkte. Ein Stich durchfuhr Ikaron und er biss sich auf die Lippe. Vor seinen Augen erschien die Benachrichtigung, dass er nun die Brille herunterfahren könne.

„Ich möchte allerdings, dass ihr eure Augen geschlossen haltet. Menschen, die die Welt das erste Mal ohne Brille sehen, können mentale Schäden davontragen und sich schwer wieder an die bessere Sicht gewöhnen. Verstanden?“ Die Schüler nickten und schlossen die Augen, während ihre Brillen herunterfuhren. Ikaron blickte noch ein letztes Mal zu Ryan, dann verdunkelte sich auch seine Sicht und er horchte gespannt auf die Schritte der Soldaten. Alles war seltsam ruhig und friedlich, die Dunkelheit wurde manchmal von kleinen gelben und roten Flecken durchbrochen, doch ansonsten fühlte es sich so an, als würde er schlafen. Dann spürte er, wie sich eine Hand auf seinen Kopf legte, ein kalter, spitzer Gegenstand drängte in sein Ohr. Er kannte das Gefühl vom Arzt, wenn dieser seine Brille untersuchte, doch irgendwie war es dieses Mal schmerzhaft und fremd. Seine Augäpfel bewegten sich unter seinen Lidern hin und her, versuchten, etwas zu erspähen, doch alles, was er wahrnehmen konnte, war der kalte Schmerz, der immer tiefer in ihn hineinkroch. Mit ihm kam die Panik, als er an die Worte des Soldaten dachte. Was, wenn er ein Widerständer war? Was würden sie mit ihm machen? Was, wenn die Regierung ihnen den Befehl gegeben hatte, sein Gehirn erneut zu untersuchen? Der Schmerz nahm zu, so auch die Panik. Es waren schon deutlich mehr als zehn Sekunden vergangen. Er öffnete leicht die Augen und hätte beinahe geschrien. Der Soldat, der über ihm stand, hatte kaum etwas Menschliches an sich. Sein Arm, dessen Ende vermutlich gerade in Ikarons Ohr steckte, war metallisch und die Augen starrten ihn wie rote, glühende Kugeln an.

Als er seinen Blick zu Ryan schweifen ließ, zuckte er zusammen, sodass der Stab in seinem Ohr beinahe gegen sein Trommelfell prallte. Ryans sonst so dunklen Haare waren nun blond und äußerst fettig. Er hatte keine Muskeln, so wie Ikaron es beim Sportunterricht gesehen hatte, die Arme waren dürr und blass. Als er zu den anderen Kindern schaute, deren Aussehen für ihn so selbstverständlich gewesen war, musste er sich zusammenreißen, nicht zu zittern. Er hatte schon von verschiedenen Programmen gehört, die auf andere Brillen zugriffen und so Menschen größer oder kräftiger aussehen ließen, doch das war eigentlich erst erlaubt, wenn man achtzehn war. Nicht nur seine Klassenkameraden sahen plötzlich anders aus, auch das Licht, das durch die Fenster drang, war stärker und die Geräusche der Straße wirkten lauter. War das die Realität? Ikaron begann, schneller zu atmen, blickte wieder zu dem Soldaten, der sich nun regte und langsam zu den anderen umdrehte. „Ich habe einen.“ Seine Stimme klang bedrohlich und fremd, doch Ikaron dachte nur kurz darüber nach. Sobald er spürte, dass der Stab aus seinem Ohr entfernt wurde, erhob er sich, um zu fliehen, doch der Soldat packte ihn an der Schulter und riss ihn zu Boden.

„Bitte, ich habe noch nie etwas gegen die Regierung gemacht, ich schwöre, ich bin kein Widerständer, ich würde es nicht wagen, etwas gegen euch zu unternehmen!“, rief er. „Wir bringen dich jetzt zu jemandem, der mit dir sprechen will. Danach sehen wir weiter.“ Während die Soldaten sich bei dem verwirrten Lehrer bedankten und die Klasse wieder die Brillen hochfuhren, bemerkte Ikaron, dass Ryan ihn mit gehobenen Augenbrauen musterte, wie um zu sagen: „Nun, da haben wir's, der Verräter wird endlich beseitigt.“ Trauer durchzuckte Ikaron und er blickte zu Boden. Hatte die Brille vielleicht vor ihm verborgen, wie wenig Interesse in Ryans Blick lag? Nein. Das war er gewesen, er selbst. Und jetzt, da er die Realität gesehen hatte, war ihm klar geworden, wie dumm er sich verhalten hatte. Zu denken, dass die Brille sich kaum von der Wirklichkeit unterschied. Mit den Illusionen, die die Regierung den Menschen vorspielte, hatten diese sich nach und nach eine perfekte Welt gebaut, auch wenn diese nur auf einem Monitor lag und nicht da, wo man sie eigentlich brauchte – hinter den Gläsern.

Ikaron musterte den Mann, der ihm nun gegenüber saß, misstrauisch und stellte das Wasserglas wieder auf den Tisch. „Wer sind Sie?“ „Ich bin einer der Erfinder dieser Brille, eine Art... Visionär für eine Zukunft ohne Gewalt und Katastrophen.“ „Und doch haben mich eure Soldaten hier hin geschleift.“ Der Mann hob eine Augenbraue und lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Sie wollten dich zu mir bringen, weil ich sie darum gebeten habe, und du hast dich gewehrt, also... war das mit der Gewalt leider unumgänglich. Doch deshalb sind wir hier. Damit so etwas nicht noch mal passiert. Menschen wie du, Widerständer, leiden an einer, wie die Regierung es sieht, unbekannten Krankheit. Euer Gehirn stößt viele der Eingriffe der Brille ab – so kann es passieren, dass ihr schon von Geburt an wisst, dass das, was wir euch zeigen, nicht die Realität ist. Und dieses Wissen quält euch, denn ihr könnt nicht hinter dieses Trugbild gucken. Aber euer Wunsch, Neues und Wahres zu entdecken, treibt euch irgendwann dazu, alles zu tun, um die Brille loszuwerden. Manche bedrohen Regierungsmitglieder, damit diese die Brille entfernen, andere trinken trotz der Warnungen der Brille Alkohol, um es zu vergessen. Das alles wollen wir verhindern...“

„Schwachsinn!“, rief Ikaron und ballte seine Hände zu Fäusten. „Ihr lügt die Menschen an. Ich habe gesehen, wie die Welt wirklich aussieht. Ja, sie ist manchmal laut und traurig und irgendwie... chaotisch. Doch jeder Mensch hat einen Platz in ihr. Und wie soll er den finden, wenn ihr uns vorspielt, dass es keine Probleme gibt? Wie sollen wir irgendwas erreichen, wenn ihr so tut, als hätten wir schon alles? Das macht uns zu nichts mehr als Puppen, mit denen ihr in einem großen Haus spielt. In einem Haus, in dem nie etwas passiert, in dem jeder Fehler schon vorhergesehen und verhindert wird, ohne dass die Menschen daraus lernen.“ „Du hast doch keine Ahnung, was hinter deinen Gläsern liegt“, zischte der Mann und erhob sich. „Du hast nur einen kurzen Blick auf die grausame Realität, die du Wahrheit nennst, geworfen. Und hat es dir gefallen? Nein! Niemandem gefällt es mehr ohne die Brille. Ihr versteckt euch hinter ihnen. Ihr benutzt sie. Und dafür... und dafür benutzen sie euch, ja das ist wahr. Wir haben sie dazu programmiert, euch zu beeinflussen. Euch... dieses Spiel spielen zu lassen. Doch das tun wir nur, um euch zu helfen.“ „Aber ihr lasst uns doch überhaupt keine Wahl, zu entscheiden, ob wir eure Hilfe wollen! Wie sollen wir uns je verbessern, wenn wir keine Entscheidungen treffen können, seien sie jetzt gut oder schlecht?“ Der Mann seufzte und bedeutete Ikaron mit einer Handbewegung, an das große Fenster zu treten.

„Es gibt nun mal Menschen, denen man keine Chance geben sollte, denn sie würden alles nur noch schlimmer machen. Bevor wir diese Brille gebaut haben, stand die Welt kurz vor ihrer Vernichtung und so auch die Menschheit. Wir waren wie ein Parasit, der seinem Wirt langsam das Leben aussaugte – Verschmutzung, Hunger, Kriege, Erwärmung... Doch dann haben wir, die Wissenschaftler und Regierungsmitglieder, beschlossen, diese Brille zu bauen – Technologie, an der wir schon Jahre lang gearbeitet hatten und mit deren Hilfe wir die Menschen dazu bewegt haben, besser zu sein. Wir begannen in den reicheren Ländern und ermutigten sie, den ärmeren zu helfen – wir bauten Infrastrukturen und Schulen. Doch es war nicht genug für alle da, also griffen wir noch tiefer in das Bewusstsein der Menschen ein und koordinierten ihren Wunsch nach Reproduktion, sodass es weder zu viel noch zu wenig von uns gab. Dadurch stoppten die Kriege und nun wollen wir uns der Natur zuwenden – Artensterben, Erwärmung. Das alles, ich gebe es zu, hatte einen Preis. Die Menschen sind nun auf die Brille angewiesen, würden wir sie frei lassen, würden sie die Fehler von Neuem begehen und wir könnten sie nicht aufhalten. Also ja, ihr werdet kontrolliert.“ Der Mann drehte sich um und blickte Ikaron direkt an. „Doch vertraust du den Menschen stark genug, um zu glauben, sie würden aufhören, unsere Welt zu zerstören?“

Autorin / Autor: Mara Aufdermauer