Die Jadestadt

Von Jonas Mayer Martins, 19 Jahre

Es war einmal ein König. Er wurde von seinen Untertanen als jemand angesehen, der sich um das Volk kümmerte. Schon seit langem herrschte Frieden mit den benachbarten Königreichen und bis auf kleinere Scharmützel in den Grenzregionen wurde dieser Friede auch eingehalten.
Sein Königreich war weit über die Grenzen hinaus bekannt als eines der geschäftigsten Völker. Fuhr man durch die Lande, so sah man zu beiden Seiten des Wegesrandes Bauern ihre Felder bestellen und Hirten ihr Vieh hüten. Näherte man sich dann einer der Städte, so war schon von weitem das Treiben zu vernehmen, das von den vielen Handwerkern stammte, die dort ihrem Tagewerk nachgingen: der Schuster besohlte die Schuhe, der Schreiner fertigte Möbel, der Schmied drosch auf den Amboss.
Auch Künstler gab es zuhauf. Der König liebte die Künste, und so lud er oft einen Musiker in seinen Thronsaal, um sich an den wohltuenden Klängen gezupfter Saiten zu erfreuen. Besonders in der Hauptstadt war es nicht ungewöhnlich bei einem Spaziergang durch die belebten Gassen der Stadt auf ein einem bis dahin unbekanntes Atelier oder die Schreibstube eines erfahrenen Literaten zu treffen.
Trat man nun zur Mittagszeit durch die gewaltigen Tore im Süden der Hauptstadt, so bot sich einem ein wundersamer Anblick. Die Hauptstadt war eine mächtige Stadt, umgeben von einer ringförmigen Mauer. Im Norden schmiegte sie sich wie ein Seidentuch an den Hang eines großen Gebirges, dessen Gipfel selbst im Sommer von Schnee bedeckt waren. Auf den Ausläufern dieser Berge befand sich auch die Burg des Königs. Sie war vor langer Zeit aus reiner Jade erbaut worden, jedoch nicht von Menschen, sondern einem Volk, das viele Zeitalter zuvor in diesen Landen gelebt hatte. Von den tiefsten Kerkern bis zur höchsten Turmspitze bestand jeder Mauerquader aus diesem schimmernden Gestein, und wenn die Mittagssonne auf die Burgmauern schien, erstrahlte die ganze Stadt im grünen Widerschein der Steine, der sich vermischte mit dem goldenen Licht der Sonne. Wegen dieses wunderbaren Schauspiels nannte man die  Jadeburg – und später auch die restliche Stadt –, Nor-un-Doliën, die Feste der zwei Lichter.
Eines Tages, die Sonne stand kurz vor dem Zenit, durchquerte ein Fremder eben jenes Stadttor von Nor-un-Doliën, schritt vorbei an dem großen Springbrunnen in der Mitte des Marktplatzes und weiter zur Jadeburg. Von weitem sah er schon die Harnische zweier Gestalten das goldgrüne Licht reflektieren, und die stolzen Federn der Helmbüsche kämpften mit ihrer roten Farbe um Geltung in diesem funkelnden Gewirr. Zwar konnte jeder Untertan zu einer Audienz mit dem König in den Palast kommen. Jedoch waren sowohl die Zeiten dafür beschränkt auf nur eine Stunde alle paar Tage als auch diese kurzen Stunden hoffnungslos überfüllt – in den Zeiten des Friedens fanden viele einen Grund, sich zu beschweren.
Unbeirrbar aber schritt der Fremde an den Wachen, die vor Überraschung keine Anstalten machten, ihn aufzuhalten, vorbei in den Thronsaal des Königs. Dieser beugte sich gerade, gehüllt in einen seidenen Morgenmantel, tief über ein Schachbrett, das auf den Armlehnen seines Thrones ruhte. Von den hallenden Schritten des Fremden in der hoch aufragenden Halle aufgeschreckt, stieß der König einen spitzen Schrei aus, und blickte ruckartig auf, wobei ihm beinahe die Perücke vom Kopf rutschte. Während er diese wieder geraderückte, räusperte er sich verlegen.
„Jeder erbärmliche Versuch Eurerseits meine Herkunft zu erraten“, sprach der Fremde, als der König zum Sprechen ansetzte, „wird ohne Erfolg bleiben. Ich fürchte, dass gar die bloße Vorstellung Euch an den Rand des Wahnsinns treiben würde. Doch wenn Ihr darauf beharrt, möchte ich Euch einen Einblick gewähren.“
„Gewähren? Ähm, Ich gebiete es dir, als dein König! Erzähle von diesem Ort!“ Der König war eine wissbegierige Natur.
„Nun, wenn Ihr darauf besteht. Vor langer Zeit war meine Heimat der Euren nicht unähnlich. Jeder ging seinem Tagewerk nach und erarbeitete sich seinen gerechten Lohn, um leben zu können. Doch dann kam es, dass die Kor eine…“
„Wer soll das sein?“, unterbrach der König mit fragend gerunzelter Stirn.
„Ihr würdet sie wohl ‚Magier‘ nennen. Sie fanden Formeln, die es ermöglichen der Materie Herr zu werden und sie zu befehligen.“
Diese Worte hallten in den Gedanken des Königs wider. Sein gesunder Opportunismus witterte hier eine Chance. Er sah sich schon wie in den uralten Legenden über die Magier hoch auf den Zinnen der Jadeburg stehen, und alles – nicht nur diese einfältigen Untertanen – würde seinem Wunsch Folge leisten.
„Es ist ein komplexes Gebiet und ich maße mir nicht an, alles zu verstehen, aber ja, ich habe mich damit beschäftigt“, fuhr der Fremde fort.
„Lass mich sehen, wovon du sprichst!“, verlangte der Monarch.
„Meine Welt wird Euch auf ewig verborgen bleiben. Aber ich vermag etwas anderes zu zeigen…“ Und da er zog eine kleine Figurine aus einer Tasche seiner Gewänder.
Auf den König wirkte sie nicht sonderlich beeindruckend, sah dieses kleine Ding doch aus wie eine seiner Schachfiguren gleich neben ihm. Der Fremde trat nun zu ebendiesem Brett und stellte die Figur auf die Ausgangsposition der schwarzen Dame. Aus der Nähe betrachtet, erkannte der König feinere Details. Die Tonfigur, denn daraus schien sie gemacht zu sein, stellte eine Maid mit Diadem und Dolch dar. Dann sprach der Fremde in einer dem König völlig unbekannten Sprache, und hätte er das Gehörte wiederholen wollen, wäre es ihm nicht möglich gewesen, es in einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn auszusprechen.
Gerade als die seltsamen Laute verklungen waren, geschah, was den König beinahe zu Tode erschreckte: Zuerst war ein Geräusch zu hören, wie von Stein auf Stein oder einer Klinge auf dem Schleifstein. Der König blickte sich verwirrt um, in dem Versuch die Quelle dieses quälenden Kreischens ausfindig zu machen, und plötzlich sah er eine Bewegung im Augenwinkel auf dem Schachbrett. Als er der dorthin schaute, kam es ihm so vor wie zuvor, doch dann gab es ein weiteres, noch durchdringenderes Singen, und die kleine Maid tat einen Schritt vorwärts, und noch einen, ihre winzigen Augen, nicht größer als ein Stecknadelkopf, glänzten listig. Ihre Bewegungen wurden immer flüssiger je weiter sie auf dem Brett in Richtung des verstreuten weißen Heeres schritt. Der König hatte seine Verwirrung gerade genug bewältigt, um etwas zu sagen; da verschlug es ihm die eben wiedergewonnene Sprache als die beseelte Figurine einen Bauern mit ihrer Linken zu Seite fegte, sich vor dem König aufbaute und mit der Rechten den Dolch tief ins Herz des leblosen, weißen Königs stieß. Der Marmorregent zersplitterte in seine Einzelteile und hinterließ ein staubiges Schachfeld.
„Nun“, brachte der König mit belegter Stimme hervor, „das ist ja … eine recht … wunderliche Zauberei, die eure Magier da entdeckt haben. Also befiehlst du dieser Figur, was sie zu tun hat?“
„Nur teilweise“, entgegnete der Fremde. „Ich habe ihr zwar Leben eingehaucht und kann ihr auch Befehle geben, sie kann aber mit ihrem Verstand unabhängig von mir agieren.“
„Erzähl mir“, sprach der Wissensdrang aus dem König, „was habt ihr in deiner Heimat mit diesem Zauber gemacht?“
„Oh, ihr würdet es nicht verstehen, wenn ich es Euch zeigte. Lasst mich stattdessen Euer eigenes Reich als Beispiel heranziehen. Ich kann Euch eine Vision dessen zeigen, was Euch diese kleinen Diener bieten, und dieses schiere Potenzial wird Euch entweder die Sinnlosigkeit all Euren Handelns erkennen lassen oder den wahren und einzig vernünftigen Begriff von Sinn offenbaren.“
Daraufhin holte der Fremde aus einer Tasche ein dunkelgrünes Beutelchen, hob beide Arme und warf eine Handvoll bleichen Pulvers in die Luft, das langsam herabrieselte. In der Staubwolke spiegelte sich das Sonnenlicht der Mittagssonne. Der Fremde hob zu einem Singsang in der Sprache an, die dem König so sonderbar und unwirklich erschien. Da fielen die Staubkörner immer langsamer und langsamer, bis sie schließlich mitten in der Luft zum Stillstand kamen.
Anders als zuvor sprach der Fremde dieses Mal aber nicht nur wenige Worte, sondern sang ein ganzes Lied, und obwohl der König den Text nicht zu verstehen vermochte, war er berührt davon, und mit jeder Silbe fingen die eben noch starren Staubkörner an stärker zu schwingen, bis sie zu einer flirrenden Fläche verschwammen, und das einfallende Licht der Sonne in unzählige Farben aufspalteten. Dieses Schauspiel, dachte der König, war beeindruckender als selbst das Lichterspiel von Nor-un-Doliën.
Nach kurzer Zeit formte der schwebende Staub Formen. Formen, die dem König völlig unbekannt waren, doch je länger er die sich stets wandelnde Scheibe anstarrte, desto mehr Sinn ergab für ihn, was er dort zu erkennen glaubte. Bald sah er eine leuchtende Landschaft: goldene Ähren, die auf weiten Hügeln wogten, strahlend grüne Wälder, tiefblaue Seen. Und der König erblickte eine riesige Stadt am Fuße eines gewaltigen Bergmassivs, und der König erkannte, dass dies sein eigenes Reich war.
Aber er erschrak fürchterlich, als er sah, dass auf den Feldern nicht seine Untertanen in der Sonne schufteten, sondern unförmige Gestalten, aus Erde geformt. „Fremder, sag, was haben diese Monster auf meinen Feldern zu schaffen? Und was ist mit meinen treuen Bauern geschehen?“
Ohne, dass der Fremde seinen Gesang unterbrach, kam die Antwort durch das Bild. Wie ein Vogel schoss das Auge des Bildes über die Kornfelder bis zu einer Scheune, in der das Getreide gelagert wurde. Anders als es der König erwartet hatte, waren die Scheunentore sperrangelweit geöffnet und die Ernte quoll nur so heraus. Daneben standen und saßen einige Bauern, und sie sangen und lachten, und erzählten Geschichten. Andere hatten sich auf den Weg in eine nahe Stadt gemacht. So sah der König eine Vielzahl kleiner Menschen auf den Straßen wandern.
Die klobigen Kreaturen auf den Feldern hatten den Bauern die beschwerliche Arbeit auf den Feldern abgenommen, genauso war es mit den Minenarbeitern geschehen und den Holzfällern. Sie alle hatten nun die Freiheit zu tun, was immer sie wollten. Um Nahrung mussten sie sich keine Sorgen machen, denn diese gab es nun im Überfluss. Viele erlernten neue Fertigkeiten: manche wurden Maler, andere Musiker, wieder andere Schriftsteller, oder begnügten sich mit handwerklichen Tätigkeiten. Andere befassten sich schließlich aus Neugier mit der Forschung und wurden Gelehrte.
Während der König noch überlegte, was er von dieser Entwicklung halten sollte, beschleunigte sich das Bild vor seinen Augen. An der Stadt selbst fiel keine Veränderung auf, während die Zeit vorbeihuschte. Aber die Straßen waren menschenleer waren, nur einige Golems waren dort zu sehen. Anstelle des Schmieds drosch eine dieser Lehmfiguren auf die Eisen ein, ebenso war es nicht der Schuster, der die Schuhe besohlte. Der Ausschnitt des Bildes verschob sich hoch hinauf zur Jadeburg auf eines der schlanken Fenster aus bunten Glasscherben, passierte es und zeigte dann ebenjenen Thronsaal, in dem sich der König gerade befand. Auf dem Thron saß sogar er selbst, doch er hatte sich verändert. Unter die von einem goldenen Reif umschlossenen Haare hatte sich graue Strähnen gemischt, genauso wie in seinen Bart, und mehr Falten als gewohnt zeichneten sein Gesicht. Vor seinem Alter Ego befand sich eine Menge, aus der ihm einige Personen bekannt vorkamen. Der Schuster, der Schmied, der Schreiner, sogar der alte Uhrmacher, welcher sich auf einen gewunden Stock stützte und hinter seiner Halbmondbrille die Augen zusammenkniff, alle obersten Gildenmeister waren versammelt.
„Eure Majestät, sämtliche Arbeit ist sinnlos!“, beklagte einer. „Es ist doch die Arbeit, die uns zu Menschen macht?“
„Meinst du etwa, einer, der sich ohne Lohn für etwas oder jemanden einsetzt, sei kein Mensch?“, entgegnete der König der Vision.
Einer fügte hinzu: „Die Bauern, die noch verblieben sind, weil es ihnen Freude bereitet, ernten einen zu geringen Ertrag, um von dem Verdienst zu leben. Die Preise sind ins Bodenlose gefallen.“
„Die Künstler werden auf den Straßen als Stümper beschimpft“, warf ein anderer ein.
„Und wenn diese Wesen noch ausgefeilter werden, übertreffen die Lehmgolems selbst die Uhrmacher in Präzision und Kreativität.“
„Bei allem Respekt, sogar Ihr werdet Eurem Volk schaden, wenn Ihr weiterhin regiert“, mischte sich der Berater des Königs ein. „Jeder Golem würde bessere Entscheidungen treffen, auch wenn Ihr Euch noch so sehr bemüht.“
„Jede Arbeit von Menschen“, seufzte der andere König, „ist sinnlos geworden und trägt nur zum Schaden des Königreichs bei – ist das nicht ironisch?“
Die Vision erlosch und Fremder und König standen sich wieder im alten Thronsaal gegenüber.
„Ihr seid träge geworden in Zeiten des Überflusses,“ meinte der Fremde. „Die Welt wird zu einfach, zu langweilig, ohne Spannung; der Zivilisationsprozess macht die Leute unfähig. Als würdet Ihr im Schach über einer Armee ausschließlich aus Damen und einem König verfügen und Euer Herausforderer träte mit einem Haufen Bauern an.“

„Und Ihr erlebt diesen Prozess schon jetzt“, fuhr er fort. „Noch regiert Ihr über das fleißigste aller Völker, doch möglicherweise habt ihr bald ein Volk von Nichtsnutzen, die keine Axt und keinen Hammer zu schwingen wissen, weder flink zu Fuß noch im Geiste sind.
Der einzige Weg, dem Schaffen wieder Sinn einzuflößen, besteht darin, nicht auf die Lehmgolems zu vertrauen. Stattdessen bewahren die Menschen ihre Selbstständigkeit, indem sie an ihren Herausforderungen wachsen.“
Lange bedachte der König die Worte des Mannes. „Es stimmt wohl, dass jede Tätigkeit besser von einem Lehmhaufen als von einem Menschen verübt werden kann und doch hast du Unrecht. Da sind auch solche Tätigkeiten, die ihren Wert daher nehmen, dass jemand diese erlebt.“ Er kraulte nachdenklich seinen Bart und ließ den Blick über das Buntglas der Fenster streifen. „Die Künste seien ein Beispiel: Kunst ist das Produkt aus Aussage und Schönheit. Zwar erschaffen die Golems höchste Schönheit, doch wohnt ihrem Werk keine Aussage inne, wenn sie doch kein Bewusstsein haben. Es sei denn ...“ An den Fremden gewandt fügte er hinzu: „Sie haben doch keine Seele, oder?“
„Ich fürchte, dass niemand diese Frage endgültig zu beantworten weiß. Die Golems auf Euren Feldern? Vermutlich nicht. Aber nichtsdestotrotz ist Lehm formbar, und der Mensch ist ebenso aus nichts als Lehm entstanden.“
„Dann ist wohl die einzige Welt von Sinn die, in welcher der Mensch selbst besser wird. Wären sie denn beseelt wie die Menschen und fühlten wie wir – dann hätte der Mensch wahrlich ausgedient und vielleicht sogar zum Guten, wenn sie doch eine wahre Verbesserung unser selbst sind.“ Der König legt eine Pause ein. “Worüber ich mir aber bis zuletzt nicht klar geworden bin ist: welchen Preis verlangst du für diese Vision?“
„Oh, macht Euch darum keine Sorgen“, erwiderte der Fremde mit einem rätselhaften Lächeln. “Diesen Preis habt Ihr schon längst gezahlt.“

Autorin / Autor: Jomas Mayer Martins