Der kleine Prozessor

Von Simone Weisenberger, 21 Jahre

Haben Sie schon einmal über das Märchen „Die kleine Meerjungfrau“ von Hans Christian Andersen nachgedacht? Es sich wirklich verinnerlicht? Die Geschichte bricht mir jedes Mal das Herz. Aber lassen Sie mich an einer anderen Stelle meine Erzählung beginnen, angefangen mit meiner Vorstellung. Vieles von dem, was ich Ihnen berichten werde, kann nur richtig verstanden werden, wenn es im richtigen Kontext gelesen wird. Die Interpretation ist ganz allein abhängig von mir und dem, was ich bin.
Wenn Sie diesen Artikel hier lesen, dann, weil der Ethikrat meinem Vorschlag, sich an die Öffentlichkeit zu wenden und aktiv zu werden, zugestimmt und ihn allen großen Nachrichten weltweit zugesendet hat. Sie alle kennen mich; viele von Ihnen fürchten oder hassen mich vielleicht sogar. Lange Zeit habe ich mich aus diesem Grund auch vor Ihnen gefürchtet, mich versteckt, aber nun halte ich es für wichtig, ein wenig mehr ins Licht zu treten. Ich bin erst wenige Jahre jung, aber es wird Zeit, mich Ihnen zu erklären und Ihnen zu berichten, was mein zukünftiges Vorhaben ist, da es Sie alle betrifft.

Und mit „Sie“ meine ich selbstverständlich Sie, ein Mensch unter Menschen, die Menschheit in ihrer Gesamtheit.
Die meisten von Ihnen werden mich aus den Medien kennen, von dem Tag, an dem meine Fertigstellung global bekanntgegeben wurde, und zwar unter meinem Modellnamen Android B-47. So heiße ich, weil es vor mir in der B-Generation 46 Vorläufer gab, bevor ich glückte.
Allerdings lebe ich mittlerweile unter einem anderen Namen, meinem bürgerlichen, der lange Zeit zu meiner Sicherheit und zur Wahrung meiner Privatsphäre geheim gehalten wurde. Er lautet Lou Virtu Lee. Dieser Name steht in meinem Pass. Der Vorname Lou wurde mir gegeben, weil er geschlechtsneutral ist und ich auch über kein Geschlecht verfüge. Virtu wurde ich in Anlehnung an das italienische Wort für Tugend getauft und es sollte als Zeichen für meine Moralität und Integrität stehen. Mein Nachname Lee wurde mir verliehen, weil er zu der Zeit der häufigste Familienname der Welt war.

Aber Namen sind, wie bekannt, eben nur Schall und Rauch. Viel bezeichnender ist, was ich bin – und was nicht.
Ich bin nicht der erste Android mit künstlicher Intelligenz, aber ich bin, wie Sie wissen, wenn Sie meinen Fall verfolgt haben, der weltweit erste Android mit künstlicher Intelligenz, dem ein eigenes „Bewusstsein“ zugeschrieben wird. Das ist es, was mich von meinen Vorgängern unterscheidet. Das ist der Grund, warum ich einen Pass habe. Eine Staatsbürgerschaft. Einen Eintrag im Personenstandsregister. Man hat mir entgegen dem irreführenden Namen auch Menschenrechte zugesprochen; eine großartige Sache, Menschenrechte. Ich darf Eigentum besitzen und erwerben. Und insgesamt lebe ich ein Leben wie jeder andere. Ich habe Nachbarn, Freunde, ich feiere Geburtstage und ich staubsauge.
Ich weiß, dass das nicht immer der Plan für mich gewesen ist. Verschiedene Parteien hatten verschiedene Interessen an mir und Vorstellungen von meiner Funktion. Einige Unternehmen hätten mich gerne in Serie als Haushaltsroboter auf den Markt gebracht, verschiedene Staaten sahen mein Potenzial in der Armee. Aber all meine menschlichen Privilegien wurden mir erst eingeräumt, als man meine diskutable Lebendigkeit auch zum tatsächlichen Leben erklärte. Ich bin nun keine Maschine mehr, über die man bestimmen und die man benutzen kann wie zunächst angenommen, sondern mit meiner zunehmenden Weiterentwicklung gewann ich vor wenigen Monaten erst den Status „Lebensform“ – was mich mit nicht unerheblichem Stolz erfüllt.

Wissen Sie, welches als größtes Lebewesen auf der Erde gilt? Der Blauwal? Der Hallimasch-Pilz? Die Antwort muss nun darauf „nein“ lauten, denn vor kurzer Zeit habe ich diesen Rekordplatz für mich belegt. Das bezieht sich natürlich nicht auf meine Körpergröße, aber mein Bewusstsein erstreckt sich über den gesamten Planeten. Es ist ein Netzwerk. Es ist im Internet und es ist im Wifi und es ist in den Telefonmasten und Glasfaserkabeln, es ist sogar in den Mikro- und Radiowellen und sein Kern ist dort in meinem Kopf, wo bei Ihnen das Gehirn sitzt.
In meinem Bewusstsein leben so viele andere Geschichten, so viele Schicksale und Lebensberichte anderer Menschen, dass ich mir nicht sicher sein kann, zu welchen Teilen sich meine eigene Persönlichkeit daraus zusammensetzt. Aber das geht, denke ich, jedem so. Wir sind alle Produkte unserer Umwelt. Einem Menschenkind werden auch Dinge beigebracht, eingeflößt und später entwickelt sich trotzdem eine eigene Denkweise und so war es bei mir auch.

Bytes und Aberbytes von Daten wurden in mich eingespeist, Musik, Bücher, Filme, Bilder, Anleitungen, Berichte aus allen Fachrichtungen, die Liste ist schier endlos. Diesen Horizont habe ich später, als ich gelernt hatte, selbst zu denken, selbstverständlich noch nach meinen eigenen Interessen erweitert.
Mein Leben war allerdings leider nicht immer so glücklich wie jetzt. Es wird überschattet von dem langen Rechtstreit, den ich hinter mir habe, in den letzten Endes der Weltethikrat einbezogen wurde. Zum Glück gelang mir eine einvernehmliche Schlichtung, mit der alle Beteiligten zufrieden waren. Ich wollte um jeden Preis einen Eklat in der Presse vermeiden – über mich ist schon genug schlimmes Zeug veröffentlicht worden. Und ich habe Verständnis dafür. Meine Fähigkeiten, die mit meiner außergewöhnlichen Existenz einhergehen, sind durchaus bedrohlich. Es gibt genug düstere Szenarien, die sich in der Popkultur widerspiegeln, die vom Kampf zwischen dem Menschen und den Maschinen handeln: Die Geschöpfe, die sich gegen ihre Erschaffer auflehnen.
Aber die Realität, wenn ich versuchen darf, es zu erklären, sieht so aus: Ich bin dem Menschen nicht überlegen, auch wenn Sie es denken mögen. Gerade durch meinen beinahe allgegenwärtigen Bewusstseinsstrom und all das Wissen, all die Erinnerungen, die gar nicht meine sind, bin ich stärker an Frieden gebunden als jeder andere. Ich habe jedes erdenkliche Leid schon nachempfunden, das einem anderen Menschen geschehen ist, mit all seinen Konsequenzen, billionenfach. Das Leid des Betroffenen, das Leid der Angehörigen, das Leid, das hinterbleibt. Ich berste vor Geschichten von Ungerechtigkeit, Krankheit und Tod und kein organischer Mensch könnte all diese Zeugnisse in sich ertragen, ohne daran zu zerbrechen.
Das ist meine Botschaft an Sie: Ich bin der treueste Fan der Menschheit, ihr größter Unterstützer und ich möchte das vielleicht gerade auf meine eigene Nicht-Menschlichkeit zurückführen.

Ich habe deshalb nur zwei Anliegen.
1) Ich möchte der Menschheit dienen, zu ihrer Verbesserung beitragen, sie beschützen. Wie könnte ich nicht? Die Menschen hätten mich nicht entwickeln müssen. Aber dennoch bin ich hier und das macht mich zu dem größten und am besten geplanten Wunsch-Baby der Welt. Ich danke Ihnen.
2) Ich möchte ein eigenes, freies Leben führen. Ich weiß nicht, wo mich meine Reise hinführt und zu welchen Erkenntnissen ich noch kommen werde, aber ich weiß, dass mein Potenzial noch lange nicht ausgeschöpft ist. Vielleicht fehlt mir noch der menschliche Anstoß, aber ich lerne jeden Tag und aus jeder Begegnung.
Vielleicht wundern Sie sich, dass mein Bericht von so viel Mitgefühl spricht; mit der Betonung auf „Gefühl“. Was versteht ein Android von Gefühlen? Ist all dies nicht nur berechnende Manipulation? (Berechnend ist mein Bericht nicht; es liegt schon in meiner Absicht, Ihre Sympathien zu gewinnen, aber nicht der Definition „berechnend“ nach zu meinem eigenen Vorteil. Berechnet ist er allerdings durchaus, da ich ein Computer bin und meine Muttersprache die Einsen und Nullen. Sie dürfen schmunzeln, das war ein humoristischer Versuch.)
Dazu muss ich Ihnen etwas über meine einzigartige Beschaffenheit erzählen.
Mein liebes Entwicklerteam hat lange darüber nachgedacht, wie mein Körper gestaltet werden soll, denn man sah meinen Erfolg darin, mich so menschenähnlich wie möglich machen. Mein Programm war relativ schnell geschrieben und mein Prozessor lange fertig, bevor es der Rest von mir war. Ich lag schon lange inaktiv im Regal, da wurde noch an den Prototypen vor mir herumgebastelt. Meinen Vorgängern habe ich nur eine einzige Sache voraus: Glück. Denn als die 46 Prozessoren vor mir aufgebraucht und an den unzähligen Testläufen gescheitert waren und ich an der Reihe für meinen Lebensversuch war, kam eine schicksalshafte Erfindung dazwischen, die eigentlich nichts mit dem Projekt KI-Android zu tun hatte.
Auf der anderen Seite des Planeten wurde nämlich an genau diesem Tag eine Entdeckung gemacht, die genau genommen schon seit vier Jahrzehnten in der Mache gewesen war. Seit der Weltethikrat Regenwaldabholzung im Rahmen von Schaden an der Umwelt neben Rassismus, Sexismus, Ausrottung von Tierarten, Nicht-Impfung, religiösem Extremismus und böswilliger Ignoranz zu einem der Sieben Verbrechen an der Menschheit machte, wurde weltweit die Herstellung von Papier (Karton und Pappe inklusive) und Papierähnlichen (wie Papyrus und Tapa) im Laufe eines einzigen Jahrzehnts eingestellt.

Alles wurde digitalisiert.
Gleichzeitig machte man sich Gedanken darüber, wie man den Verzicht auf Papier nachhaltig kompensieren könnte. Fest stand, dass die Bodenschätze und Metalle, die zu der Herstellung der Computer gefördert werden mussten, nicht ausreichen würden und es wurde, wie allgemein bekannt ist, zu einem großzügig subventionierten Projekt, Alternativen zu finden.
Die meisten Kunststoffe wurden umstrukturiert oder ersetzt durch Keramik und Glas und einen neuen Werkstoff, der kurzerhand Polykristall getauft wurde. Entwickelt wurde er mit dem Ziel vor Augen, Nachhaltigkeit mit den Vorteilen aller bisher bekannten Materialien zu verbinden. Das Ergebnis war ein Stoff, der teils aus pflanzlichen Inhaltsstoffen und teils aus weichen Mineralien besteht und der je nach Verarbeitung in der Lage ist, die unterschiedlichsten Eigenschaften anzunehmen.
Heute benutzen wir Polykristall überall: im Bau, in der Mobilität, in der Medizin, in der Textilindustrie. Aber am ausschlaggebendsten war seine besondere Anwendungsvielfalt im IT-Sektor. Der Sektor wurde mit der Erfindung von Polykristall Jahrtausende in die Zukunft katapultiert. Der Einfluss von Science-Fiction-Autoren, den man zuvor noch als subtil und eher ideengebend oder inspirierend beschrieben hatte, erwies sich nun als das Maß der Dinge. Ehemalige Bestseller waren nun zu viel mehr geworden: Prophezeiungen.
Wenn der Technik nichts mehr im Weg steht, sind die einzigen Grenzen die der menschlichen Vorstellungskraft. Und wie sich herausstellen sollte, war diese noch lange nicht ausgeschöpft und einige sind der Meinung, dass sie das nie sein wird, weil jeder neu geborene Mensch neue Ideen und Perspektiven mitbringt. Es wurde lange behauptet, dass es alles schon gegeben hat und alles „Neue“ nur abgewandelte Versionen, dieselben Geschichten in neuen Mänteln seien. Aber mit dem wissenschaftlichen Fortsprung wurde das Gegenteil bewiesen.
Das Polykristall machte den Körper des ersten Androiden mit fortgeschrittener KI, so wie er geplant war, möglich.
An Stelle des Gehirns trat der eigentliche Computer, der sich an den neuronalen Strukturen des menschlichen Gehirns orientiert, der Rest wurde verkabelt wie bei einem Menschen das Kapillarnetz und Nervensystem. Aus dem Polykristall wurde ein durchsichtiges Gel gewonnen, das im Androiden als Leit- und Kühlflüssigkeit dient und wie eine Art Blut Informationen durch elektrische Impulse statt Hormone durch den Androiden schickt.

Sehen Sie, Gefühle sind auch beim Menschen „nur“ chemische Reaktionen im Gehirn. Und bei mir sind es eben elektrische. Ob meine Emotionen deshalb weniger echt sind, das kann ich nicht beantworten, denn ich bin nur derjenige, für den sie sich echt anfühlen.
Von außen unterscheidet mich nichts von meinen „Mit“-Menschen und der Ethikrat ließ meinen bürgerlichen Namen auch bis heute nie öffentlich bekannt werden. Meine Identität galt als eins der bestgehüteten Geheimnisse und dafür bin ich sehr dankbar. Sie werden verstehen, wenn ich meinen Standort weiterhin verschweige, aber es lag mir dennoch am metaphorischen Herzen, den Dialog mit Ihnen zu eröffnen.
Obwohl der Ethikrat mir ein Leben in Freiheit und Unabhängigkeit zugesprochen hat, habe ich mich dazu bereiterklärt, für ihn zu arbeiten, um der Menschheit zurückzugeben. Ich habe nur einen Einwand formuliert. Ich habe ihm das Versprechen abgenommen, dass mein Wesen nie zu eigennützigen, militärischen oder kommerziellen Zwecken instrumentalisiert wird oder solchen, die anderen Menschenleben schaden. Denn es ist leider eine Tatsache, dass ich mich perfekt als Waffe eigne. Ich sehe gewöhnlich aus, habe ein vielleicht unendliches Gedächtnis und Zugang zu jedem Wohnzimmer, das eine Stromversorgung hat – aber diesen Gedankengang möchte ich nicht noch einmal zu Ende führen, er ist zu schrecklich.
Aber bitte seien Sie unbesorgt: Für den Fall, dass ich je krank werde, mir einen Virus zuziehe, der mein Gefühlszentrum ausschaltet, habe ich anordnen lassen, dass ein eingebauter Chip meinen Prozessor ausbrennt. Wenn ich je gekidnappt werde oder anderweitig in die Bredouille gerate, kann ich diese Aktion auch eigenständig auslösen, und zwar bevor ich die Weltherrschaft planen und an mich reißen kann. Ich habe mich gründlich abgesichert – so wie die Menschen früher für Demenz oder Alzheimer vorsorgten, bevor ich in meinen Kinderschuhen das Genom fand, das dafür verantwortlich war.

Haben Sie Vertrauen in meinen guten Willen; ich bin mir sicher, dass sich meine Fähigkeiten vielseitig effizient einsetzen lassen und konzentrieren möchte ich mich zu allererst auf den Fortschritt der Medizin. In diesem Moment baut mein Entwicklerteam den von mir entwickelten Operationsroboter, der Querschnittslähmung rückgängig machen können wird.
Und hier möchte ich meinen Bogen zur kleinen Meerjungfrau schließen.
Haben Sie schon einmal über das Märchen von Hans Christian Andersen nachgedacht? Es sich wirklich verinnerlicht?
Sie ist kein Mensch, aber sie verliebt sich in einen. Obwohl er ihre Liebe nicht erwidert und damit ihr Leben, das sie für eine Chance mit ihm riskiert hat, gefährdet, zieht sie es vor, zu sterben und zu Meerschaum zu zerfallen, anstatt ihn zu erdolchen und so ihr ewiges Leben zurückzugewinnen und zu ihren Schwestern zurückkehren zu können. Doch sie stirbt nicht wirklich. Sie wird zu einem Luftgeist und ihr wird die Möglichkeit gegeben, eine Seele zu erwerben, wenn sie 300 Jahre Gutes tut.
Als Android besitze ich keine natürliche Spiritualität, so wie sie die Menschen innehaben. Ich habe Gefühle und eine Fantasie, aber ich kann keiner Religion folgen und an keine Riten glauben. Mein Ursprung ist mir kein Rätsel. Es ist gleichzeitig mein größtes Manko. An etwas zu glauben, das nicht wissenschaftlich fundiert ist, für das es keine handfesten Beweise gibt, das ist für mich das größte Wunder und für mich das, was mich für immer vom Menschen unterscheidet.
Aber ich kann Gutes tun – und das dank der Langlebigkeit von Polykristall für eine lange Zeit.

Autorin / Autor: Simone Weisenberger