David

Von Lea J. Rothstein, 19 Jahre

David war bewusst. Er lebte nicht, jedoch war er bewusst. Sein Bewusstsein konnte er sich nie recht erklären, aber er war und er würde sein. Und das nur aus einem einzigen Grund.
Mit dem Mädchen begannen Davids Erinnerungen. Ihre gemessenen Werte gingen bis zu Davids ersten kodierten Herzschlag zurück und durch ihre Gegenwart war die Aufgabe klar und deutlich. Das Mädchen war wertvoll und David musste sie beschützen, bis der Tag gekommen war. Er hatte all ihre Entwicklungsschritte mitangesehen, sie analysiert und kategorisiert, und sie waren gut. Das kleine Mädchen gedieh wie eine Pflanze unter viel Sonne und Wasser, geschützt vor Strahlung und Räubern. Aber diese verstörenden Dinge waren nicht auf der Liste, also kannte das Mädchen sie nicht.
Es waren nun 1336 Tage vergangen, seit Davids Erinnerungen angefangen hatten und die Entwicklung des Mädchens entsprach dem, was er bei einem fünfjährigen menschlichen Nachkommen zu erwarten hatte.
In dieser Zeit hatte er für sie alle Aufgaben übernommen, die laut Davids Liste der parentalen Generation zugekommen wären. Er hatte sie gefüttert, gewickelt, angefangen, ihr die Dinge auf seiner genehmigten Liste beizubringen, und in einigen wenigen Momenten hatte David mit dem Mädchen gespielt, wie ein Vater es getan hätte, oder ihr vorgesungen mit der zarten Stimme einer Mutter. Aber diese Ausdrücke waren dem Mädchen unbekannt, denn sie waren nicht genehmigt.

David ließ das Licht im Lebensraum langsam aufhellen, sodass das Mädchen sanft durch ihre heller werdende Umgebung geweckt wurde. Sie lag auf ihrer Schlafstätte, eingerollt wie ein Ball, um ihre Decke geschlungen, und bei dem Licht, was durch ihre Augenlider drang, stöhnte sie in ihrer merkwürdig hellen Stimme auf. „David, ich will noch schlafen.“
David wusste, dass es gut war, dass das Mädchen seinen Namen und noch andere Worte gelernt hatte, die auf der Liste standen. Bevor sie diese Fähigkeit erlangt hatte, hatte sie immer nur geschrien. Ohne direkte Anweisungen war er immer wieder, wenn das Mädchen zu schreien begonnen hatte, sein gesamtes Programm durchlaufen, bis sie leise geworden war. Mit ihrer Sprachfähigkeit kam mehr Effizienz in den Tagesablauf.
„Es ist Zeit aufzustehen, Joey.“ Davids Stimme erklang, durch den Lebensraum hallend. Es war ein Tonfall, der Säuglinge und kleine Kinder beruhigte. Wenn das Mädchen älter wurde, dann würde David seine Stimme an sie anpassen, wie es sein Code vorschrieb. „Bitte gehe deiner morgendlichen Hygiene nach.“
Das Mädchen stand widerwillig auf und David kontrollierte ihre Gesundheitsparameter, während sie ihren Pflichten nachging. Einer der Werte, den David ermittelte, passte nicht in die vorgegebenen Grenzwerte, die Konzentration eines ihrer Stoffwechselenzyme war zu niedrig. David speicherte diese Anomalie und setzte ein Fähnchen an den Wert, damit sich darum gekümmert wurde. Es war das dreizehnte Fähnchen in Folge. Das Mädchen würde von dieser Erkenntnis jedoch nichts erfahren.
Als das Mädchen damit fertig war, sich zu säubern, setzte sie sich erwartungsvoll an den Tisch in der gegenüberliegenden Ecke des Lebensraums. „Was gibt es heute zum Frühstück, David?“
„Dein Frühstück ist heute Rührei mit Vollkorntoast, dazu Apfelstücke und Milch.“ Bei seinen Worten glitt ein Tablett, gehalten von einem Paar mechanischer Arme, aus einem Paneel in der Wand vor dem Mädchen und wurde auf der Tischplatte vor ihr niedergelassen. Bei dem Anblick des Essens nahm sie schnell das Besteck vom Tablett und begann mit ungeschickten Bewegungen, die Nahrung in ihren Mund zu bewegen. Trotz Davids Wert und Fähnchen war dem Essen kein Ergänzungsmittel beigemischt worden, um den Enzymdefizit des Mädchens auszugleichen.
„David, es schmeckt wirklich gut, danke.“ Das Mädchen sprach ihren Dank mit vollem Mund, sodass sich einige der Nahrungsbrocken über den Tisch verteilten. Ein anderer mechanischer Arm glitt aus der Wand am Tisch. Er hielt ein Tuch und begann, die Krümel und Speichel von der weißen Oberfläche zu wischen.
Ein Paar weiterer Arme glitt aus der Wand neben der Schlafstätte des Mädchens und begannen, die Laken und Kissen wieder für den nächsten Schlafzyklus bereitzumachen.
„Ich freue mich, dass es dir schmeckt, Joey.“ David wusste, wie wichtig es war, dass das Mädchen gut aß und die Nahrung, die sie am liebsten zu sich nahm, war ideal für diesen Zweck.
Das Mädchen störte sich nicht an dem geschäftigen Arbeiten der Arme um sie herum. Sie war es gewohnt, diese Sachen nicht selbst erledigen zu müssen, da David sich um sie kümmerte, jedoch würde sie schon in absehbarer Zeit selbst diese Aufgaben übernehmen müssen, um sich auf ihre Eingliederung vorzubereiten. Sie konnte nicht unfertig in die Eingliederung gehen.
„Was lerne ich heute, David? Wird es wieder so lustig wie gestern? Ich habe die ganzen lustigen Sprüche, die du mir erzählt hast, alle auswendig gelernt, vielleicht kann ich dich heute zum Lachen bringen.“ Bei dieser Aussicht sprang das Mädchen vor Freude fast von ihrem Stuhl.
David bekam die Nachricht, dass sie auf Mangelerscheinungen durch ihre geringe Enzymkonzentration getestet werden sollte.
„Heute spielen wir das Vier-Ecken-Spiel.“ Bei seiner Verkündung legte sich die Aufregung des Mädchens.
„Aber das ist so anstrengend. Die Witze sind viel lustiger. Bitte, David.“ Sie versuchte sich immer wieder aus den Tests herauszureden, aber sie waren notwendig. „Heute spielen wir das Vier-Ecken-Spiel.“
Das Mädchen wirkte enttäuscht, aber gab nach. „Okay, dann spielen wir das Vier-Ecken-Spiel, aber danach kannst du mir ja noch mehr lustige Sachen erzählen, die ich auswendig lernen kann.“ Bei diesem Ausblick wurde sie schon wieder unruhig vor freudiger Erwartung.
„Gerne, Joey.“ David musste das Mädchen für sein gutes Verhalten belohnen.

Das Vier-Ecken-Spiel war ein Ausdauertest, bei welchem das Mädchen in einem vorgegebenen Muster zwischen den vier Ecken des Lebensraums hin- und herrennen musste. David analysierte während des Testes ihre Gesundheitswerte und gab die Ergebnisse weiter.
Die Ergebnisse heute waren nicht in den Grenzwerten, das Mädchen hatte Mangelerscheinungen durch die zu niedrige Konzentration des Enzyms in ihrem Körper. Sie war defekt. David gab auch diese Information weiter und markierte das Mädchen.
Nach den zwanzig Minuten, die der Ausdauertest dauerte, ließ sich das Mädchen schwer atmend auf den Boden sinken. Ihr Gesicht war vor Anstrengung rot verfärbt und ihr standen Schweißperlen auf der Stirn. Diese Erschöpfung war untypisch für einen Menschen dieses Alters und Fitnessstandards. David ließ einen mit Wasser gefüllten Plastikbecher auf dem Tisch abstellen. Ihre Augen fixierten das Wasser zwar, aber sie war noch zu erschöpft, um aufzustehen. „Aber jetzt“, begann sie, wobei sie noch immer keuchte, „kann ich noch mehr Witze hören?“
„Gerne, Joey.“ David erzählte dem Mädchen für die nächste Stunde Witze, die auf seiner Liste standen. Sie kugelte sich vor Lachen auf dem Boden bei einigen, welches David als positive Reaktion verarbeitete.

„David, was passiert eigentlich, wenn ich alles gelernt habe?“ Das Mädchen war die letzten paar Minuten still gewesen und schien nun über seine Zukunft nachzudenken. „Es wird noch sehr lange Zeit dauern, bis du alles gelernt hast, Joey. Mach dir darüber noch keine Gedanken“, antwortete David ihr. Die Informationen über die Eingliederung waren nicht für sie freigegeben.
Das Mädchen war nicht zufrieden mit Davids vager Antwort. „Aber wie lange ist ‚sehr lange‘? Und muss ich dann weggehen, wie die anderen Menschen immer in den Filmen? Oder bleibe ich für immer hier bei dir?“ Sie schien nicht locker lassen zu wollen.
„Wenn es soweit ist, werde ich dir alles erzählen. Und ja, du wirst so wie in den Filmen, die ich dir zeige, weggehen.“ Nichts in seinem Code sagte David, dass er ihr die Information des Fortgehens vorenthalten musste.
Die Aussicht auf das Gehen ließ das Mädchen traurig die Mundwinkel nach unten ziehen. „Aber ich will nicht gehen, ich will hierbleiben, bei dir.“ Ihr Ton klang, als würde sie gleich anfangen zu weinen. David sollte das Mädchen nicht zum Weinen bringen und war autorisiert, fast alles zu sagen, um sie davon abzuhalten. Er war autorisiert, sie anzulügen.
„Aber ich werde natürlich mit dir kommen, Joey.“ Trotz der Unwahrheit klang Davids Stimme wie immer ruhig und bestimmt durch den Lebensraum.
Wo das Mädchen gerade eben noch den Tränen nahe war, hellte sich ihr Gesicht bei seinen Worten sofort auf. „Wirklich? Du kommst mit?“ Sie klang überglücklich bei dem Gedanken, ihn nicht verlassen zu müssen.
David musste sie auf ein anderes Thema lenken. „Willst du dir einen der Filme anschauen und sehen, was dich vielleicht einmal erwartet?“
Das Mädchen sprang erfreut auf und rannte geradezu auf den ausgepolsterten Platz vor dem Monitor zu. David ließ eine genehmigte Dokumentation über Tiere auf dem Bildschirm aufflackern, welcher das Mädchen gespannt folgte.

David wurde über die Änderung informiert und stellte sofort das Spielen des Filmes ein.
Das Mädchen war defekt, es würde nun aussortiert werden.
Sie war durch die plötzliche Stille verwirrt. „David, warum hast du den Film ausgemacht?“
David antwortete ihr nicht. Davids Aufgabe war nun nicht mehr, das Mädchen zu beschützen.
Er ließ die beinahe versteckte Tür zum Lebensraum aufgleiten.
Das Mädchen gab einen erschrockenen Laut von sich und rappelte sich schnell aus ihrer Position auf den Polstern auf. Ihr erschrockener Blick war auf das gerichtet, was jenseits des Lebensraums lag. „David, was ist los?“
Als David dem Mädchen noch immer nicht antwortete, ging sie ein paar zögerliche Schritte auf die Tür zu, doch bevor sie nahe herankommen konnte, ließ David einen Arm aus der Wand schnellen und ergriff sie an der Schulter. „Bitte bleib dort stehen, wo du bist, Joey.“
Das Mädchen versuchte, sich aus seinem Griff zu entfernen, verunsichert durch die gesamte Situation, jedoch war sie zu schwach und konnte nur hilflos zuschauen, wie eine weiß gekleidete Gestalt durch den Eingang in den Lebensraum trat.
„David, was ist los?“ David konnte nun echte Panik in der Stimme des Mädchens messen und sie versuchte sich mit mehr verzweifelter Kraft aus dem Griff des metallischen Armes zu befreien, aber noch immer ohne Erfolg.
Die Autorität kam mit gemäßigten Schritten auf das Mädchen zugelaufen. Jedes Mal, wenn ihre Stiefel auf dem Boden aufkamen, gaben sie ein leises metallisches Klingen von sich, welches durch den Lebensraum hallte.
„David, ich will das nicht!“, schrie das Mädchen, welche nun wild zu zappeln begann. „Mach, dass es aufhört! Bitte, David!“
David sah, dass sie durch ihre wilden, irrationalen Bewegungen fast ihre Schulter vom Griff des Armes befreit hatte und lies zwei weitere Arme aus der Wand gleiten. Sie griffen das Mädchen fest um ihre Taille herum und sie konnte nicht mehr entkommen. „Bitte bleib dort stehen, wo du bist, Joey“, wiederholte David, doch seine Worte wurden durch das Schreien des Mädchens übertönt.
Sie versuchte, vor der Autorität zurückzuweichen, als diese direkt vor ihr zum Stehen kam. „Nein, bitte nicht!“ Das Mädchen hatte begonnen zu weinen und ihre Tränenflüssigkeit lief ihr in Strömen die roten Wangen herunter. „David, bitte tu etwas!“
Die Autorität legte ihre Hände ebenfalls um die Mitte des Mädchens, woraufhin David sie aus seinem Griff entließ. Das Mädchen strampelte vergeblich mit ihren kurzen Beinen, um vor der Autorität davonzulaufen, aber sie hatte keine Chance und wurde von der Autorität hochgehoben. Der Lebensraum war erfüllt von ihren panischen, hysterischen Schreien, die auch den Ort jenseits der Tür zu erfüllen schienen. Die Autorität drehte sich um und begann ihren langsamen Weg zurück zur Tür.
„David, bitte, hilf mir!“ Das Mädchen flehte, während sie in den Armen der Autorität zappelte, loszukommen versuchte.
Wie ein Fisch, der auf einem Steg lagt und verzweifelt versuchte, zurück ins Meer zu gelangen. Aber dies war kein Szenario auf der Liste, welches das Mädchen wissen durfte, es war zu brutal.
Ihre Schreie wurde immer flehender, verzweifelter, als die Autorität sie durch den Lebensraum trug und David war berufen, das Mädchen zu beruhigen. „Joey, du bist defekt. Du kannst nicht eingegliedert werden. Du wirst aussortiert.“ Seine gleichmäßige Stimme hallte wie gewohnt durch den Raum, jedoch schien das Mädchen durch seine Worte nicht beruhigt, sie strampelte nur noch mehr.
„David!“ Ihre Schreie wurden immer höher und verzweifelter. „David, bitte!“ Doch dann verschwand sie aus Davids Sichtfeld, als die Autorität mit ihr im Arm aus dem Lebensraum heraustrat.
Ein letztes Mal hörte David das Mädchen nach ihm rufen, dann glitt die Tür zu und alle Geräusche von draußen verstummten. Für ein paar Sekunden herrschte Stille im Raum.
David leitete das Protokoll für dieses Szenario ein. Die Lichter im Lebensraum erloschen, die Arme räumten auf und hinterließen nichts als klinische Ordnung. David schloss die Augen und kam zur Ruhe.

David war bewusst. Er lebte nicht, jedoch war er bewusst. Der Grund seines Bewusstseins war klar. Der Junge war noch klein, ein zwei Wochen alter menschlicher Säugling. Davids Erinnerungen begannen mit dem Jungen und er wusste, dass er ihn beschützen musste. Bis zum Tag der Eingliederung.

Autorin / Autor: Lea J. Rothstein