Das Kollektiv

Von Leon Flachmann, 20 Jahre

Die Erde war wüst und leer. Ein Geist schwebte über dem Ödland. Ruinen säumten den zer-rissenen Asphalt, blattlose Baumgerippe zierten die Alleen zu den Müllhalden, neben ihnen abgenagte Leichen. Ausgetrocknetes, dorniges Gestrüpp entflammte sich in der sengenden Mittagssonne von selbst. Vereinzelte Trupps von ausgemergelten Menschen zogen verzwei-felt auf der Suche nach etwas Essbaren umher. Sie klappten ohnmächtig auf einem geschän-deten Friedhof zusammen. Das vermoderte Fleisch der Toten hatten sie schon vor einer gan-zen Weile abgenagt. Sie wurden von einem anderen Trupp gefunden. Der Trupp hob sie hoch, um sie in ihr geschütztes Lager zu bringen. Dort brutzelten sie dann das Fleisch über dem Dornenfeuer ...

Alles begann vor einigen Jahrzehnten. Die Zehn-Milliarden-Menschen-Marke wurde zum Beginn des Jahres überschritten. Dies geschah früher als erwartet. Der Sektor Zhong-Guo hat im April des Jahres seine vierte Miene auf der stillen Seite des Mondes eröffnet und der Sektor Albion stellte im Juni einen weiteren Weltraumhafen auf der Vorderseite fertig und richtete eine Versorgungs- und Handelsweg zu der neuen Kolonie auf dem Mars ein. Sahara-City feierte im August ihr fünfjähriges Bestehen und wächst immer noch beständig weiter. Die Stadt in der Mitte des größten Solarfelds des Sektors Afer erfreut sich großer Beliebtheit bei der Bevölkerung. Am Ende des Jahres, an Silvester, stellte das führende Forschungsinstitut des Sektors Antarktika einen Quantensprung im Bereich der Informatik vor, der die mensch-liche Rasse revolutionieren sollte.

Dank Künstlicher Intelligenz wird es der Menschheit möglich sein, den Tod selbst zu über-winden. Was die Medizin nie vollbringen konnte, wird dank der Informatik nächstes Jahr endlich Realität werden: das ewige Leben. Dazu wird aus den Daten, den Erinnerungen, die ein Mensch zu Lebenszeit angehäuft hat, Algorithmen generiert, welche das Verhalten eines Menschen zuverlässig vorhersagen können, sodass ein perfektes, digitales Ebenbild entstehe, das dem Original dank Künstlicher Intelligenz in nichts nachstehe. Eine ewige Präsenz, Augmented Eternity, wäre so geschaffen. Mit dieser Methode wäre es auch möglich längst verstorbene Geistesgrößen wieder zurück ins Leben zu rufen. Auch lebende Menschen könn-ten noch zu ihrer Lebzeit in die Augmented Eternity eintreten, um gemeinsam an den größ-ten Problemen der Menschheit zu arbeiten. Für solche Fälle wurden spezielle Kapseln entwi-ckelt, welche gut geschützt unterirdisch gelagert werden. Es war Mitternacht. Die Sektkorken knallten, denn Unsterblichkeit wird auf der Erde walten.

Natürlich konnte man nicht zulassen, dass jeder Mensch der Erde zu diesem extraordinären Programm zugelassen wird. Nicht jeder hat das benötigte geistige Volumen, um sinnvoll da-ran mitzuwirken, und man benötigt immer noch einen gewissen Teil an Arbeitern, die die Infrastruktur aufrechterhielten. Selbstverständlich trägt nicht jede humanoide Lebensform dieses wunderschönen Planeten zum Fortschritt bei. Mitnichten war die Teilnahme am Pro-gramm eine Frage des Geldes. Gott bewahre! Nein, das oberste und entscheidendste Aus-wahlkriterium war das Nutzen für die Gemeinschaft. Die oberste Devise des Programms war die Optimierung des menschlichen Lebens auf der Erde und ihrem Trabanten; kurz: O.M.L.E.T.

O.M.L.E.T. hieß gleichzeitig auch die KI, welche die Selektion der Kohlenwasserstoffnetz-werke auf zwei Beinen vornahm. Es versteht sich von selbst, dass eine Selektion durch Men-schen von vornherein nicht in Frage kommt, da der Mensch leider doch immer wieder seine Entscheidungen nach rein subjektiven Faktoren fällt, wie zum Beispiel Sympathie, Mitleid und Nächstenliebe, die aber einer Zivilisation in den meisten Fällen eher schaden als weiter-bringen. Außerdem war es eine rein pragmatische Entscheidung, denn nur eine KI war in der Lage bei einer Weltbevölkerung von über zehn Milliarden Menschen die Selektion in einem adäquaten Zeitraum vorzunehmen.
O.M.L.E.T. war kein Gott. Es war nicht der Richter über Gut und Böse, sondern über Nütz-lich und Unbrauchbar. Es hielt die Waage des Schicksals in seinen Händen und wog den Wert eines jeden Menschen auf dem Erdball. Die Mondmenschen waren von Anfang an aus-geschlossen, da man dort ihre Arbeitskraft benötigte, nicht ihre Geisteskraft, die sich nach O.M.L.E.T.s Begutachtung eh nicht als allzu herausragend erwies. Hatte irgendeinen kompli-zierten Zusammenhang mit der geringeren Schwerkraft.

Die Menschen marschierten brav in langen Reihen in die schwarze Box, in der Scanner in-stalliert waren, mit dem die KI das Testobjekt wahrnehmen konnte und diese entschied auf Grund ihrer Datenbank, die sie stetig von selbst erweiterte und sie bis zur Perfektion getrie-ben hat, ob der Mensch entweder links oder rechts aus der Box rausgehen durfte. Links führ-te der Gang direkt zum Vorbereitungszimmer für die Konvertierung, rechts zurück ins alte Leben mit einem Marker, damit man sich nicht noch einmal unnützerweise anstellt und so den eh schon relativ langwierigen Prozess unnötigerweise in die Länge zieht. Spätestens die KI wird den Betrug bemerken und dann fällt man durch eine Falltür nach unten. Betrüger haben in einer guten Gemeinschaft nichts zu suchen. Sie vergiften sie nur. Aber meistens kommt es nicht so weit, da sie aufgrund der Marker vorher schon von den übrigen Menschen in der Reihe dankenswerterweise ausgestoßen werden; so ist allen geholfen. Wir brauchen unsere stolzen Arbeiter. Sie werden das Fundament unserer neuen strahlenden Zukunft sein.

Neben den benötigten Scannern war auch noch ein Bildschirm in der Box installiert, auf dem das Interface der KI als menschliches Gesicht projiziert wurde. Das Aussehen des Ge-sichtes war an die jeweiligen Schönheitsideale der Region angepasst worden. Der Bildschirm war eigentlich vollkommen überflüssig, da die Scanner die Augen und Ohren der KI waren. Es hat sich aber herausgestellt, dass die Probanden ruhiger sind, wenn sie von einem anderen Menschen beurteilt werden, statt von einer gerechten und objektiven KI.
O.M.L.E.T. schickte in erster Linie Menschen mit einem hohen IQ nach links, da sie das größte geistige Potential besaßen. Hinzukamen dann noch Menschen, welche herausragende Leistungen in den Bereichen Politik, Wissenschaft, Medizin und in der Erstellung von Kat-zenvideos erbracht haben. Letztere kamen leider durch einen kleinen Fehler der KI in das Programm rein. Da ihre Clips auf verschiedene Webseiten sich großer Beliebtheit erfreuten, hat sie der Algorithmus als besonders wertvoll für den Erhalt der menschlichen Rasse einge-stuft. Eine Fehleinschätzung, die umgehend von einem menschlichen Gremium behoben wurde.
Aus Gründen der Humanität kamen noch ausgewählte Autoren, Maler, Schauspieler, Ko-miker und Architekten mit in das Programm hinein. Selbst bei der Erschaffung einer besseren Welt sollte man auf ein ansprechendes Design achten. Zudem benötigt selbst die Spitze der Gesellschaft von Zeit zu Zeit etwas zum Lachen.

Der Chromsargdeckel senkte sich langsam herab. Ein kurzes Zischen verkündigte den Vor-gang der Vakuumisierung. Neben dem Sarg flackerte ein Bildschirm mit Daten für ver-schiedenste Vitalwerten auf: Herzschlag, Atmung, Gehirnaktivitäten, Muskelmasse, Gewicht und Temperatur. Die Atemmaske schloss perfekt Mund und Nase vom Vakuum ab und ver-sorgte ihren Träger beständig mit Oxonium. Verschiedenste Katheter waren für Notfälle und gewisse menschlichen Bedürfnissen gelegt worden. Ein stabiler Schlauch ragte aus dem Bauch zur Nahrungsversorgung heraus. Ein Netz aus Neurosensoren umspannte den Kopf des Toten, der nicht tot war. Er träumte nur. Diesen Kabelsalat sah man nicht, da der gesam-te Deckel aus einem Stück Carbin gefertigt war. Auf Wunsch konnte der Deckel mit einem Bildschirm dazu gebucht werden, damit der Tote einem lächelnd aus dem Cyberspace an-starren konnte.

An den schwarzen Selektionsboxen waren bunte Plakate angeklebt. Wütende Menschen standen weltweit vor den Zugängen. Sie brüllten Parolen, verscheuchten die wartenden, ver-suchten O.M.L.E.T. zu vernichten. Auf ihren Bannern und Schildern prangten Aufschriften wie »Jedes Leben ist wertvoll« oder »Menschlichkeit den Menschen«. Der beliebteste Spruch schien zu sein: »Leben geschieht, hier endet es«.

Die Anstachler für diese Proteste waren in erster Linie markierte Menschen, die versuchten so ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen. Sie wollten aus reinem Egoismus die größte Chance der Menschheit vernichten. Hätte es ihnen die KI gestattet nach links zu gehen, lägen sie jetzt glückselig in einer Chromkapsel und ständen nicht hier draußen im strömenden Regen und verhinderten den Fortschritt. Ihre Aktion war die reinste Zeitverschwendung. Die Menschen, die auf ihre Selektion warteten, hatten keine Ohren für die Aufrührer, da sie ihre Möglichkeit nicht von vornherein verspielen wollten. Leider schlossen sich die Menschen, die nach rechts gehen durften, sofort den Mob an. Zu meinem Bedauern muss ich gestehen, dass wir den Aufruhr vor den Boxen nicht länger dulden konnten. Wir sahen uns unerfreulicherweise da-zu gezwungen diesen Menschen ihr Recht auf Meinungsfreiheit zu entziehen, da sie eine Be-drohung für die Aufrechterhaltung des gesamten Systems darstellten.
Sicherheitsleute in schwarzen Uniformen strömten auf die Plätze vor den Boxen und trie-ben die Demonstranten und Menschenrechtler auseinander. Viele Menschen wurden mit Be-täubungspfeilen sediert. Einigen wenige musste man mit dem Knüppel ausknocken. Die ko-operativen Menschen, die ihr Fehlverhalten einsahen, wurden nur lebenslänglich unter Ar-rest gestellt, wo sie nützliche Arbeit für die Gemeinschaft leisteten. Diejenigen, die sich nicht als allzu kooperativ herausstellten, wurden in die neuen Arbeiterminen auf dem Mars ver-legt, um dort über ihren negativen, toxischen Einfluss mit den anderen aufrührerischen Mar-kierten nachzudenken.
Aus Achtung vor der Weltregierung wagte es nach diesem traurigen Tag kein weiterer Mensch dem schändlichen Verhalten der Aufrührer zu folgen. Freiheit und Gerechtigkeit für alle Menschen, die dem guten Beispiel folgten.

Die Datenbank, bestehend aus den KIs der lebendigen Toten, wuchs von Jahr zu Jahr immer stärker. Immer weniger Menschen wandelten tatsächlichen mit physischem Ballast über die Erdoberfläche. Immer mehr lagen in hochtechnisierten Chromsärgen unter ihr und träumten den Traum von der Unsterblichkeit.
Die digitalen Bewusstseine schmolzen in den Jahren immer stärker zusammen. Zuerst bilde-ten sich kleine Cluster aus ähnlichen Zielen und Interessen. Dann wuchsen sie zu größeren zusammen, die verschiedene Aspekte eines Vorhabens teilten. Irgendwann passierte das Un-fassbare. Alle Bewusstseine waren zu einem gewaltigen Kollektiv zusammengeschmolzen. Jeder neue Tote, der hinzukam, wurde von diesem Kollektiv automatisch in sich aufgenom-men.
Während das Kollektiv immer innovativere und genialere Ideen für eine bessere Welt, ein besseres Leben aller Menschen kreierte, zerfiel auf der anderen Seite die Erde und die Zivilisa-tion immer mehr.

Diejenigen Menschen, die nicht für das Programm privilegiert waren (hauptsächlich waren es Handwerker, Arbeitslose, Fitnesstrainer, Models, Bauarbeiter; kurz: Menschen mit einem zu geringen Gehirnvolumen, die das Kollektiv nur schwächen würden), plünderten die leer-stehenden Läden und lebten in den verwahrlosten Villen wie die Götter auf dem Olymp.
Die Politiker, Verwalter der Sektoren und einige Arbeiter, die sich freiwillig dazu entschie-den haben sich einer Prüfung erst nach ihrem Tod zu unterziehen, schafften es anfänglich noch mit einem gewissen Erfolg die allgemeine Ordnung und Struktur aufrechtzuerhalten, aber mit den Jahrzehnten wurden diese Menschen immer älter, schwächer und starben ir-gendwann aus. Sie wurden ein Teil des Kollektivs, da sie ihren Wert für die Gemeinschaft bewiesen haben. Sie konnten altruistisch denken.
Mit ihrem Tod kam eine neue Generation an die Macht, die mit den Schrecken der Selektion aufgewachsen war. Sie waren allesamt gemarkert. Sie haben die Ungerechtigkeit des Systems am eigenen Leib erfahren. Sie beschlossen, dass die Weltregierung kein Recht mehr dazu hat, über sie zu bestimmen. Sie stürzten den Weltrat und setzten ihn in Brand. Auf der ganzen Welt brannten an einem einzigen Tag alle Verwaltungsgebäude der Weltregierung nieder. Nur die schwarzen Boxen blieben als Mahnmale stehen. Es war eh unmöglich sie zu zerstö-ren. Zu ihrem Bedauern konnten die Anarchisten ihre Verwandten nicht aus ihrer Scheinunsterblichkeit befreien, da die Leichenhallen unter der Erde hermetisch abgeriegelt worden waren.
Wenige Jahren blieben die Anarchisten an der Macht, die es schafften, eine Art Gemein-schaftsleben bestehen zu lassen. Die sozialen Werte und die Moral waren noch nicht voll-ständig ausgerottet worden. Als dann aber die letzten Vorräte der Erde langsam zuneige gin-gen und die beiden Kolonien sich längst von der Erde abgekapselt hatten, um unabhängig zu sein, entstand die Rasse der radikalen und selbstdestruktiven Anarchisten. Der Futterneid hat das Recht des Stärkeren zurückgebracht. Kannibalismus kam einige Jahre später wieder im großen Stil auf. Interessanterweise überlebten die weiblichen Models diesen Wahn am längs-ten; war vermutlich nicht allzu viel dran ...

Die Menschheit hat sich erfolgreich in einem Jahrhundert unbeabsichtigt dahingesiecht. Klar gab es da noch die kilometertief vergrabenen Hallen voller lebendiger Leichen, die aber nie wieder die Oberfläche erblicken werden. Ihre neuronalen Netzwerke sind in den letzten Jahrzehnten zu stark miteinander verschmolzen. Wachten sie auf, sterben sie alle. Ihre Ge-hirne würden auf Grund einer Reizüberflutung implodieren. Die Menschheit schaffte es, alle Probleme der Welt zu lösen, als sie das erste Mal in ihrer Geschichte wahrhaftig in einem Kol-lektiv zusammenarbeiteten. Die Blaupausen für ein Utopia auf Erden waren fertiggestellt worden. Sie wachten auf ...

Autorin / Autor: Leon Flachmann