Brüder im Geiste

Von Theresa Haidl, 23 Jahre

„Mama! Mama guck mal!“, spukte es durch meine Gedanken. Das Bild von seinem konzentrierten Blick und seiner heraushängenden Zunge erschien in meiner Erinnerung. Noch heute sehe ich ihn auf seinem kleinen Fahrrad den Fußgängerweg auf und ab strampeln. Das waren die schönen Erinnerungen. Doch im nächsten Moment sehe ich ihn dort liegen, mit blutüberströmtem Gesicht und höre noch immer das Quietschen der Autoreifen.
Fünf Jahre später saß ich noch immer an seinem Krankenbett, hielt seine Hand und erzählte ihm alles, damit er nichts versäumte. „Alles Gute zu deinem elften Geburtstag Erik, mein kleiner Kämpfer.“ Ich strich ihm seine schwarzen Haare aus dem Gesicht. „Heute habe ich dein Zimmer neu gestrichen und als kleines Geschenk habe ich dir ein neues Bett gekauft. Es würde dir bestimmt gefallen.“ Ich küsste seine Hand und schmiegte sie an meine tränennasse Wange. An der Tür hörte ich ein Klopfen, aber ich ignorierte es. Ein Räuspern. Im Begriff, den Eindringling hinauszuwerfen, drehte ich mich um. Und da stand er.
„Wie können Sie es wagen, diesen Raum auch nur zu betreten“, fauchte ich ihn an. „Frau Kaiser, ich kann verstehen, dass ich der letzte Mensch bin, den Sie sehen wollen, aber lassen Sie mich erklären..,“, flehte er. „Erklären?! Was erklären? Sie sind schuld, dass mein Sohn seit Jahren im Wachkoma liegt. Was wollen Sie noch erklären, Herr Veil?“ Er trat langsam auf mich zu und zog dabei eine kleine Schachtel hervor. „Ich habe vielleicht eine Möglichkeit gefunden, um Ihnen Ihren Jungen wiederzugeben.“ Betroffen starrte ich ihn an. Beim Öffnen der Schachtel erklärte er: „In diesem Mikrochip befindet sich ein Programm, das in der Lage ist, die beschädigten und zerstörten Teile des Gehirns ihres Sohnes zu reparieren oder zu ersetzten.“ Ich schüttelte den Kopf. „Eine solche Technologie existiert nicht.“ „Sie ist sehr experimentell, aber sie ist da“, argumentierte Herr Veil. „Der Chip wird am Gehirn Ihres Sohnes angebracht, von dort sendet das Programm mit Hilfe von elektrischen Impulsen Signale über die Synapsen des Gehirns an die Areale, an denen die Informationen benötigt werden.“ Mir schwirrte der Kopf, aber ich verstand zumindest eines. „Wo ist der Haken?“ Er wirkte nervös, dennoch antwortete er. „Es handelt sich dabei um eine sogenannte KI. Eine künstliche Intelligenz.“ Entgeistert starrte ich ihn an. „Nein, keine Sorge, sie ist so programmiert, dass sie nur unterstützende Tätigkeiten ausübt. Bitte, lassen Sie es mich wiedergutmachen. Lassen Sie mich Ihnen Ihren Sohn wiedergeben.“ Ich sah seinen flehenden Blick. Ich wägte meine Optionen ab. Versuchte die Vor- und Nachteile abzuwägen. Doch schlussendlich lief es auf eine Frage hinaus. Konnte ich Erik eine Künstliche Intelligenz zumuten? Ein Experiment? Doch war im Gegenzug nicht jeder Neuanfang eine Art Experiment? Nachdem ich einige Zeit darüber nachgedacht hatte stimmte ich zu, hoffend, dass ich das Richtige tat.

Mehrere Wochen waren vergangen, seit ich im Krankenhaus aufgewacht bin und mir erklärt wurde, was geschehen war. Ich begann eine Kur und ging wieder zur Schule. So vieles war neu, so vieles war anderes, aber ich war bei alldem nicht allein. Neben meiner Mutter half mir KI. Eine leise Stimme in meinem Kopf, die mir Ratschläge gab, mir schwierige Dinge erklärte und mich unterstützte, wo es nur ging. KI war spitze. Durch ihn holte ich die verlorenen Jahre viel schneller nach, als sich die Ärzte erhofft hatten. Ich konnte mich innerhalb weniger Tage völlig normal bewegen. Das Sprechen klappte nach den ersten beiden Wochen fehlerfrei und sogar die Schule war relativ simpel. KI meinte nur, ich sollte mich nicht zu stark auf ihn verlassen, da ich den ganzen Stoff selbst lernen sollte. Daher schaltete er sich immer mal wieder aus und ließ mich selbst die Aufgaben erledigen. Spielverderber. Ich bin kein Spielverderber und das weißt du genau. Nur was lernst du, wenn ich dir ständig helfe?, hallte seine Stimme durch meinen Kopf. Ich rollte mit den Augen. „Jaja. Diese Diskussion hatten wir schon oft genug und irgendwie kann ich dich auch verstehen. Aber wir hatten vereinbart, dass wir ein Team sind und ein Team hält doch zusammen, oder?“, stichelte ich zurück. Das sind wir und wenn ich merke, dass du tatsächlich meine Hilfe benötigst, bin ich jederzeit für dich da. Nach diesem kurzen inneren Dialog spürte ich, wie sich KI zurückzog und mich mit meinen Matheaufgaben zurückließ.
In den Pausen war ich ständig allein. Keiner wollte mit dem seltsamen Jungen gesehen werden. Daher aß ich mein Pausenbrot und unterhielt mich mit KI. „Mathe ist ein sinnloses Fach, wenn du mich fragst. Für was braucht man all dieses Zeug später überhaupt.“ Für mich, zum Beispiel. Für Videospiele und alles Technische auf diesem Planeten. „Klugscheißer.“ Ich habe nur deine Frage beantwortet. „Schon, aber ich wollte nur über das Fach mosern.“ Zerknirscht biss ich in meinen Toast. Du würdigst Mathematik nur nicht, da dir das Erlernen des Stoffes schwerfällt. Sieh es als Herausforderung, die es zu meistern gilt und sobald du das geschafft hast, gefällt dir auch der Unterricht. „Wie stelle ich das an?“ Interaktionen mit anderen Menschen. „KI, bitte, benutze Wörter, die du mir nicht dauernd erklären musst.“ Ständig verwendete er Begriffe, die ich nicht verstand. Er erklärte sie mir dann, aber oft rauchte mir danach der Schädel. Interaktion bedeutet: Handlungen, wie Gespräche zwischen Menschen. „Danke.“ Gern geschehen. „Und weiter?“ Such dir Gleichaltrige, mit denen du lernen kannst. Gemeinsames Lernen steigert nachweisbar die Lernbereitschaft und sorgt für eine aktivere Wissensaufnahme. Und es täte dir gut, menschliche Freunde zu haben. „Gut, aber wen? Alle meiden mich. Sie finden mich komisch“, grummelte ich. Lass mich mal ran. Sieh dich um., wies KI mich an. Langsam blickte ich mich nach allen Seiten um, sah mir die Kinder genau an und gab KI die Gelegenheit, sich alles einzuprägen. Zwei potenzielle, ich meine, zwei mögliche Kandidaten. Bei der Treppe neben den Toiletten steht eine Gruppe von Mädchen. Das blonde Mädchen, das etwas abseitssteht. Sie steht nur dabei, weil sie sich an eines der Mädchen geheftet hat. Ich nickte. Möglichkeit Nummer zwei. Der rothaarige Junge da hinten, auf den Bänken. Er sitzt genauso allein da wie du. Er liest ein für sein Alter durchaus kompliziertes Buch. Ein gutes Anzeichen dafür, dass er dir beim Lernen eine große Unterstützung sein kann. Ich sah mir die beiden nochmal genau an. Das Mädchen sah wirklich verloren aus und der Junge wirkte so einsam wie ich. Voller Tatendrang rieb ich mir die Hände. „Jetzt brauchen wir nur noch einen Schlachtplan.“ Keinen Schlachtplan. Eine Herangehensweise. „Na schön, dann sowas.“ Beginne mit dem Jungen. Schlage ihm vor, nach der Schule mit zu dir nach Hause zu kommen, zum Spielen oder um gemeinsam Hausaufgaben zu machen. Bei dem Mädchen würde ich warten, bis du sie ungestört und alleine erwischt und dann das Gleiche.
Gesagt, getan. Die erste Woche verging holprig, aber je öfter Melinda, Alexander und ich etwas unternahmen, umso tiefer wurde unsere Freundschaft. Wir lernten und spielten gemeinsam. Im Unterricht saßen wir nebeneinander und auch die Pausen verbrachten wir zusammen. Mit ihnen Zeit zu verbringen war lustig und wir hatten auch viele Gemeinsamkeiten. Doch das Allerbeste war, sie fanden mich nicht komisch. Meine Mama freute sich so sehr über meine neuen Freunde, dass sie uns überall hinfuhr und mir sogar erlaubte, bei ihnen zu übernachten. Einmal hatte sie vor Freude geweint und mich fast zerquetscht in ihrer Umarmung. Das eigentliche Lob galt allerdings KI. Eines Nachts lag ich wach, da mich eine Frage beschäftigte. „Hey KI, bist du wach?“ Wenn du wach bist, bin ich es auch., antwortete er. „Woher wusstest du, dass Alexander und Melinda meine Freunde werden?“ Gewusst hatte ich es nicht. Ich habe mir die Menschen angesehen, Berechnungen aufgrund ihrer Körpersprache und ihrer Mimik erstellt und dann die Wahrscheinlichkeitsrechnung genutzt. Die beiden hatten die höchste Übereinstimmung. Ich grübelte. „Dann hast du auf gut Glück geraten!?“ Nein. Berechnungen sind genauer als Raten, aber ja, hundertprozentig wusste ich nicht, ob die Freundschaft funktionieren würde. Ich lachte. „Mit dir müsste ich zum Glücksspiel gehen. Du würdest alle abzocken.“ Meine nächste Vermutung wäre dann, dass uns deine Mutter Hausarrest für den Rest unseres Lebens erteilen würde. „Ganz bestimmt.“ Ich legte mich hin. „Gute Nacht, KI.“ Gute Nacht, Erik.

Das erste Jahr nach meiner Entlassung verging wie im Flug. Die Schule lief spitze und meine Kur war auch zu Ende. Melinda und Alexander wurden zu Dauergästen bei mir zu Hause. KI brachte mir noch immer Fremdwörter bei und hielt mir Vorträge über alles, was ihm gerade einfiel. Er zeigte mir sogar Mathezaubertricks. Denk dir eine beliebige ein- oder zweistellige Zahl. Nun verdopple deine gedachte Zahl. Ich rechnete auf einem Blatt mit. „Und du schummelst wirklich nicht?“ Nein, das ist ein ganz simpler Mathematiktrick. Jetzt addierst du das vorige Ergebnis mit zwölf. „Bin soweit.“ So, nun teilst du das Ergebnis durch zwei und zu guter Letzt ziehst du deine gedachte Zahl vom Anfang ab. Das Ergebnis ist sechs. Als ich mit rechnen fertig war stand da tatsächlich die Zahl Sechs. „Woher wusstest du das?“, fragte ich begeistert. Wie ich sagte. Ein simpler Mathematiktrick. „Gleich nochmal.“ Wir wiederholten ihn so oft, bis ich ihn auswendig konnte und KI übte mit mir. In den nächsten Tagen gab ich in der Schule mit dem Zaubertrick an und jeder wollte das Geheimnis wissen. Endlich war ich nicht mehr der seltsame Junge und wieder verdankte ich es KI, aber der meinte, ich solle stolz auf mich sein. Er war es auf jeden Fall.
Heute hatte ich einen Termin bei einem neuen Arzt. Der wollte den Mikrochip von KI kontrollieren, ob da alles in Ordnung war. Mama und ich waren kaum angekommen, als uns der Arzt in Empfang nahm und in sein Behandlungszimmer führte. Er reichte mir die Hand und grinste mich an. „Hallo Erik. Schön dich kennenzulernen. Ich bin Doktor Veil und ich werde heute mit dir ein paar Untersuchungen machen, um festzustellen, ob der Mikrochip weiterhin einwandfrei funktioniert“, stellte der Arzt sich vor. „Wird es weh tun?“ „Nein, nein. Keine Sorge, es wird eher langweilig.“ Doktor Veil winkte mit den Händen ab und lachte mich aufmunternd an. Ich nickte und ließ die Prozedur, noch ein Wort, das mir KI beigebracht hat, über mich ergehen. Zuerst leuchtete mir Doktor Veil mit einer Lampe in die Augen, dann testete er mit Hämmerchen und Hölzern meine Reflexe. Er stellte mir Fragen, wie ich heiße, wo ich wohne und allgemeine Fragen über das letzte Jahr. Dann setzte er mir eine sehr seltsame Haube auf. Ich spürte wie mir Gel durch die Haare rann. Irgendwie cool, aber auch ekelig. Der Doktor und meine Mama saßen hinter einem Bildschirm und redeten leise miteinander, während der Doktor mit einem Stift auf den Bildschirm tippte. „Gut gemacht, Erik. Gleich sind wir fertig. Jetzt kommt der langweilige Teil.“ Jep, und wie öde es war. Ich lag in einem riesigen, hämmernden Kasten, in dem ich ruhig liegen bleiben musste. Danach saß ich allein im Behandlungszimmer. Mama und Doktor Veil besprachen die Ergebnisse im Nebenraum. Neugierig schlich ich zur Türe und lauschte, bekam aber nur Bruchstücke mit; wie Irrtum, mögliches Risiko, viel erreicht und entfernen. „Ähm, KI das hört sich gar nicht gut an.“ Die Untersuchungen haben anscheinend nicht die erhofften Ergebnisse gebracht. Wir sollten aber nicht zu schnell urteilen, da wir nur Ausschnitte des Gesprächs verstanden haben. „Ich habe trotzdem ein schlechtes Gefühl.“ Und es täuschte mich nicht. Sie haben festgestellt, dass die Künstliche Intelligenz mehr Einfluss nehmen kann, als sie sollte. Deshalb hat dieser Doktor beschlossen, dass sie zu gefährlich ist und er hat Mama geraten, sie entfernen zu lassen. Er versicherte Mama, dass bereits der Großteil meines ursprünglichen Gehirns einsatzbereit ist und mir dadurch kein Schaden entstehen würde. Ich versuchte Mama umzustimmen: „Mama, bitte hör mir zu. KI ist wirklich nicht gefährlich. Er hilft mir und nur dank ihm habe ich meine Freunde. Er ist mein Freund. Bitte lass den Doktor ihn nicht entfernen!“ Mama liefen Tränen übers Gesicht. „Es ist nur ein Mikrochip. Ein Mikrochip, der eines Tages ein Risiko darstellen könnte...“ „Das wird er nicht! Hör mir doch zu!“, unterbrach ich sie. Aber sie hörte mir nicht zu. Niemand wollte mir zuhören oder mich verstehen. Ich wehrte mich, ich beschimpfte beide und schloss mich Zuhause in meinem Zimmer ein. Nichts half. Sie ließen sich nicht umstimmen. Sie akzeptierten KI nicht als das, was er für mich war…
Und jetzt lag ich im Krankenhaus, bereit für die OP und allein mit KI. „KI?“, fragte ich in meinem Kopf. Ja Erik? „Ich will nicht, dass du verschwindest.“ Ich zitterte am ganzen Körper. Erik, stell dir mich als ein Stützrad vor, mehr war ich nicht und jetzt brauchst du mich nicht länger. „Für mich bist du mehr. Du bist mein Freund. Wir sind ein Team. Wir wollten doch immer füreinander da sein!“ Du hast deine Freunde, die dir ab sofort zur Seite stehen und ohne mich wird dein Leben unkomplizierter. Nur eines musst du versprechen zu tun. „Egal was!“  Lerne intensiver Mathematik, da ich dir dabei nicht mehr helfen kann. „Das werde ich. Versprochen.“ Mama kam mit den Schwestern herein. Ein schönes Leben, Erik. Du hast es verdient. „Ich werde dich vermissen, KI.“ Die Narkose setzte ein und das Letzte, was ich von KI hörte war ein. Gute Nacht, Bruder.

Autorin / Autor: Theresa Haidl