Electronica

Einsendung von Michael Gernot Sumper, 26 Jahre

Am anderen Ende unseres Universums gibt es einen Planeten, den noch kein Mensch unserer Erde je gesehen hat. Auf ihm ist das Leben wunderschön: Es gibt keine Armut, keine Krankheit, keinen Tod. Und weil die Menschen dort nie alt werden, sind sie immer jung und führen ein glückliches Leben in Saus und Braus. Sie können alles unternehmen und alles kaufen, was gegen Geld möglich ist, weil jeder von ihnen reich ist. Sie sind immer topfit und daher ständig am Treiben und Schaffen. Denn sie haben einen Schatz:
In der Mitte ihrer Stadt befindet sich ein Brunnen, der Wunderwasser enthält. Die Menschen nennen es „Electronica“. Zu beiden Seiten des Brunnens wächst je ein riesiger Baum und diese Bäume ziehen mit ihren Wurzeln das Wasser aus der Erde. Und daher wird in diesem Brunnen natürlich immer Wasser sein.
Dieses Wunderwasser Electronica ist der wertvollste Besitz des ganzen Planeten, denn durch dieses Wasser bleibt den Menschen viel Arbeit erspart. Sie müssen nur einen Gegenstand mit diesem Wasser in Berührung bringen, führt er alle Tat von allein aus: Lässt man ein paar Tropfen dieses Wassers auf eine Schaufel fallen, beginnt sie zu graben. Besprenkelt man mit dem Wasser eine Küche, bereitet sie ganz von selbst das Mittagessen. Und reibt man mit dem Wasser ein Fahrrad ein, fährt es plötzlich zehnmal so schnell …
Es gibt auf dem ganzen Planeten nur einen einzigen Menschen, der noch nie von diesem Wasser Gebrauch gemacht hat. Es ist auch der einzige alte Mensch auf dem Planeten, ein alter Mann, der in einer Hütte auf einem Hügel am Waldrand lebt. Die anderen Menschen hatten ihn deshalb schon oft ausgelacht. „Das Wasser brauche ich nicht“, meinte er knapp.
Die Menschen nutzten und genossen das Wunderwasser bei jeder Gelegenheit. Der Mann aber baute selbst in eigenhändiger Arbeit Gemüse in seinem Garten an, machte Brot aus dem Getreide und pflückte sich jeden Morgen zum Frühstück einen Apfel von seinem Apfelbaum. Die anderen aber wollten nichts von dieser Arbeit wissen, sie galt ihnen als altmodisch, umständlich, stumpfsinnig  - ja kurzum unnötig. Sie fragten ihn: „Alter Mann, warum machst du all deine Arbeit selber? Nimm doch eine Flasche Wunderwasser, damit geht alles schneller und leichter und man muss sich nicht die Finger schmutzig machen. Der alte Mann aber sagte nur: „Was ist, wenn der Brunnen eines Tages kein Wasser mehr enthält? Was wollt ihr dann tun?“ Doch diese Frage war einfach lächerlich.

Als aber die Jahre vergingen, stand das Wunderwasser einen halben Meter tiefer als sonst. Und die Menschen meinten: „Das ist nur eine kleine Trockenphase jetzt im Sommer, das geht wieder vorbei.“ Da wurde der alte Mann aufmerksam und nach einem Jahr ging er wieder zu dem Brunnen um nachzusehen: „Das Wasser wird weniger. Da war doch früher mehr drin. Das wird ja Jahr für Jahr weniger!“ Und die Menschen meinten: „Das ist nur eine kurze Laune der Natur, das wird schon wieder. Unser Wunderwasser ist doch unser wertvollstes Gut, da wird schon nichts schiefgehen.“
Und die Menschen meinten, er solle nicht alles schwarzsehen. Da war der alte Mann enttäuscht, weil ihm niemand glauben wollte, und da beschloss er sich nun für immer in seine Hütte zurückzuziehen, um dort von seinem Brot, seinem Gemüse und seinen Äpfeln zu leben.
Noch einige Jahre vergingen, dann klopfte es an seiner Tür. „Alter Mann, unser Wasser wird knapp, es reicht nicht mehr für alles aus! Wir verhungern und verdursten fast.“ „Dann müsst ihr eure Arbeit eben selber machen. Baut Gemüse an, macht Brot aus dem Getreide! Selbsterzeugung ist das Zauberwort der Zukunft.“ „Aber wir haben das doch alles verlernt, wir wissen nicht mehr, wie die Menschen das früher gemacht haben. Und außerdem brauchen wir auch etwas zu trinken. Was sollen wir jetzt trinken? All unsere Cola-Flaschen sind leer.“ „Dann trinkt euer Wunderwasser! Was wollt ihr denn sonst tun?“, fragte der Mann.
Da liefen die Menschen los und holten mit dem Eimer noch den letzten Rest des Wunderwassers aus dem Brunnen herauf. Und sie rissen sich gegenseitig den Eimer aus den Händen, damit sie alle noch etwas abbekamen, um ihren Durst zu stillen. Niemand hatte es je gekostet, aber nun mussten sie feststellen, dass es phantastisch schmeckte. Sie schauten einander ganz verwundert an und konnten es gar nicht glauben. Und so jubelten sie laut auf, bedankten sich bei dem Alten, feierten und gingen schließlich zu Bett.

Der Mann führte sein bescheidenes Leben weiter. Mit der Zeit aber fragte er sich, was aus ihnen und dem Brunnen geworden war. Also ging er seit langem wieder in die Stadt. Keine Menschenseele sah er auf den Straßen. Der Brunnen stand leer und war staubtrocken. Und so ging er zu einem Haus in der Nähe, klopfte an und trat ein. Mehrmals rief er „Hallo!“, doch niemand meldete sich. Er suchte jeden Raum in dem Haus ab, doch fand niemanden. Erst als er ins Schlafzimmer ging und nach rechts auf das Bett schaute, sah er zwei Leichen  darin liegen: eine tote Frau und ein toter Mann. Der Alte krachte die Tür zu, flüchtete aus dem Haus, schrie um Hilfe und suchte im nächsten Haus nach Menschen, auch dort derselbe Anblick: ein totes Ehepaar im Doppelbett - beim nächsten Haus wieder und beim nächsten Haus wieder, bis er wusste, dass sie alle an ihrem Wunderwasser verreckt waren, von dem sie alle getrunken hatten.
Als letzter Überlebender dieser Geisterstadt konnte er nun nichts mehr tun. Hier war jede Hilfe zu spät. Der Alte hätte höchstens noch das viele Geld mitnehmen können, das in den Kammern der reichen Toten gelagert war, doch er wusste, dass man sich auch davon nicht ernähren konnte.
Und so ließ er alles in ihren Häusern stehen und liegen und kehrte auf seine Hütte zum Waldrand zurück, wo er sich einen Apfel von seinem Baum pflückte, den aß er genüsslich und schaute hinüber zu den Waldwipfeln, hinter denen die Sonne hervorblinzelte, und dann auf seine Felder, wo er das Getreide und das Gemüse anbaute und die Obstbäume. „Ich verstehe nicht, warum sie alle nichts davon wissen wollten.“

Autorin / Autor: Michael Gernot Sumper, 26 Jahre