Wegsehen

Einsendung zum Schreibwettbewerb Zeilengrün von Rita Lara, 20 Jahre

Es war ein wolkenverhangener Tag. Eine leichte Brise fuhr durch die Stadt. Die ersten Marktleute bauten ihre Stände auf, sonst war es leer.
Ein Mädchen lief mit schnellen Schritten die einsamen Straßen entlang. Auf ihren schwarzen Locken saß eine dunkelgrüne Schiebermütze aus Cord. Wie nahezu jeden Sonntagmorgen machte sie sich zum nahegelegenen Strand auf. Aus der rechten Tasche ihrer leichten Strickjacke lugte der kleine Kopf einer Ratte hervor, der im Takt ihrer Schritte wippte.

Auf dem Weg zum Meer begegneten ihnen zwei Füchse, die um rare Beute stritten. Über ihren Köpfen kreisten hungrige Möwen.
„Gestern habe ich einen weißen Schmetterling gesehen“, erzählte das Mädchen dem Tier in der Jackentasche, das mit seinen aufrecht gestellten Ohren tatsächlich zu lauschen schien. Vor Jahren hatte sie den Nager als Jungtier gefunden. Obwohl die Regierung gegen die verbliebenen Wildtiere vorzugehen versuchte, wimmelte es auf den Mülldeponien und an den Stränden von unerwünschten Arten. Das Mädchen hatte den Nager aufgezogen und seither war er ihr ständiger Begleiter. „Ich weiß, es ist unwahrscheinlich… und doch bin ich mir sicher. Im Museum ist ein ähnlicher ausgestellt, darum weiß ich, dass es einer gewesen ist. Er war wirklich hübsch.“

Inzwischen kam das Meer in Sicht, und das Rauschen der Wellen erfüllte die feuchte, salzige Luft. Die kühle See unter dem grauen Himmel bot einen tristen Anblick.
Das Mädchen schirmte die Augen mit der Hand ab. In weiter Ferne konnte sie die Umrisse der Windräder und die Dächer der überfluteten Häuser sehen, die früher einmal im Trockenen gestanden hatten, in einer Zeit, in der das Wort „Klimawandel“ noch ein unwirkliches Szenario in ferner Zukunft gewesen war.
Vor allem aber konnte das Mädchen beim Näherkommen den angeschwemmten Plastikunrat sehen. Natürlich waren da noch das alte Treibholz, der Meerschaum, die vielen Steine und die Algen, doch das Interessanteste war der Müll, der unablässig von den fleißigen Wellen angespült wurde. Einmal hatte das Mädchen sogar einen kaputten Elektroherd gefunden.
Vor vielen, vielen Jahren hatte die Stadtreinigung aufgegeben, den Strand zu säubern. Baden im Meer war damit nahezu unmöglich geworden.

„Mal sehen, was es diesmal gibt“, raunte das Mädchen ihrem pelzigen Begleiter zu, der sich allerdings in Anbetracht des aufkommenden Windes in die Tiefen der warmen Jackentasche gekuschelt hatte.
Endlich spürte sie sandigen Untergrund unter ihren Schuhen. Sie wurde langsamer und sah sich routiniert um. „Das Übliche“, erzählte sie der Ratte, die noch immer verborgen blieb, „alte Fischernetze, Lumpen, Einwegflaschen, Plastikteile, Tüten...“ Die toten Fische und Möwen mit ihren Mägen voll Kunststoff, die meisten schon verwest, blendete sie gekonnt aus.

Schließlich blieb ihr Blick an einem größeren Gegenstand hängen, der noch halb in den Wellen lag. Sie zog sich die Schuhe aus, krempelte sich sorgfältig die Hosenbeine hoch und ging hinüber, um es sich anzusehen.
Es war eine alte Holztruhe. Der Lack war abgeblättert, das Holz an einigen Stellen morsch und schwarz verfärbt. Die Oberfläche wiederum war an einigen Stellen mit einer Salzkruste überzogen. Als sie mit dem Finger über das rissige Holz fuhr, blieb Sand daran haften.
Sie beugte sich vor und hob den oberen Teil der Truhe an. Erwartungsvoll blickte sie hinein…
Eine Dose? Sie zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. Das Verwahrte muss wirklich wichtig sein, wenn zwei Behälter dafür notwendig sind, überlegte sie.
Die Dose fest an sich gepresst, entfernte sie sich wieder vom Wasser und öffnete mit einem Ruck den Blechbehälter.
Nun schaute auch endlich wieder die Ratte aus der Jackentasche hervor. Die schwarzen Augen blinzelten neugierig, die Schnurrhaare bebten.
„Das ist interessant“, erklärte das Mädchen triumphierend. Erwartungsvoll faltete sie das abgegriffene, brüchige Papier auf, das sich in der Dose befunden hatte. Es war verfärbt, an den gefalteten Stellen eingerissen und schien bereits recht alt zu sein. Sie begann zu lesen und musste einige Male innehalten, weil die Tinte verlaufen war.

„Die Menschen sehen nicht, was sie nicht sehen wollen.
Die einen handeln falsch, die anderen sehen zu.
Sie sehen nicht ein, dass sie die Weltmeere verpesten, dass sie das Ökosystem Meer auf den Kopf stellen.
Dass es mehr Plastik geben wird als Plankton, mehr Müll als Meeresbewohner. Dass sie Strömungen und künftig ganze Strände in Mülldeponien verwandeln. Dass sich Tiere aus ihrem Müll Nester anfertigen, ihren Müll fressen, sich darin verheddern, daran sterben.
Und selbst wenn die Menschen es sehen, wenn man es ihnen vor Augen führt, wenn sie es mit ihren eigenen Augen erblicken, so tun sie doch nichts.
Menschen gehen über Leichen, das ist eine Tatsache. Sie tun es seit dem Anbeginn ihrer Zeit.
Doch ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass sich etwas ändern wird, dass sie sich ändern werden. Jahre werden vergehen, Jahrzehnte und Jahrhunderte.

Eines Tages wird es sie geben.
Menschen, die nicht wegsehen.“

Das Mädchen sah auf.

Sie dachte an all die Jahre, die seit dem Verfassen dieser Botschaft vergangen sein mussten, an all die Jahrzehnte und Jahrhunderte. Sie dachte an all die Tatsachen aus dem alten Brief, die sich bewahrheitet hatten.
Sie schaute zu ihrer Ratte, die ihren Blick erwiderte. Dann wanderte ihr Blick weiter, über die zahlreichen angeschwemmten Plastikteile, über die toten Tiere. Leichen, die niemand beachtete. Die niemand sah.

Sie konnte nicht wegsehen.