A und B

Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Emily Pfeiffer, 16 Jahre

Sie liegt auf ihrem Bett und starrt an die Decke. Nach oben. Denkt die Decke, dass sie unten sei und das Bett und die alte Frau darauf oben? Wahrscheinlich. Aber wahrscheinlich denkt die Decke gar nichts, weil sie unbelebt ist. Genauso wie Gertrud Häuser.
Gertrud ist langweilig, und zwar schon eine ganze Weile. Gertrud weiß (oder findet jedenfalls), dass das eine Nebenwirkung des Altwerdens ist. Die Menschen stellen sich das schön vor, wenn sie viel zu tun haben, in ihren jungen Jahren. Sie denken, dass das gut sei, das Langweilen und langweilig sein. Sie denken, dass das Entspannung sei. Dass sie das brauchen würden. Aber in Wirklichkeit ist Langeweile kein Dysphemismus für Entspannung, sondern ein Euphemismus fürs Dahinvegetieren. Und das will keiner. 
Sie steht jeden Morgen um exakt sieben Uhr auf. Nicht, weil sie irgendeine Verpflichtung hätte oder etwas Wichtiges anstünde, sondern, weil sie nicht mehr schlafen kann. Und, damit sie später nicht die jungen Leute stört, wenn sie einkaufen gehen wollen. Gertrud kassiert sonst böse Blicke. Sie hat nichts gegen die jungen Leute, im Gegenteil: Gertrud mag die jungen Leute. Die wollen doch noch etwas erreichen. Gertrud will und kann nichts mehr erreichen, denn sie ist alt. Für Gertrud ist alt das Gleiche wie depressiv. Immer mehr Menschen sind alt, immer mehr Menschen sind depressiv. 
Gertrud Häuser ist 93 Jahre, vier Monate und acht Tage alt. Manchmal kommen die Menschen und flüstern: „So alt würde ich auch gern werden“, völlig ehrfürchtig. Sogar ihre Ärztin (eine ihrer Ärztinnen) sagt das, dabei weiß Dr. Merkur, dass Gertrud elf (manchmal zwölf) Tabletten am Tag nimmt, nehmen muss. Sie weiß, dass ihr Bewegungsradius um die drei Kilometer beträgt und dieser sich nicht wieder vergrößern wird. Aber darüber spricht man nicht. Wenn man alt ist, lächelt man über die eigenen Wehwehchen. Wenn die Verwandten fragen, möchte man nicht die gebrochene alte Frau sein. Man möchte teilnehmen. Man möchte auch in kein Heim.
Einmal hatte Gertrud den Herd nicht ausgemacht, sie hatte es einfach vergessen, denn ihre Lieblingssendung wollte sie nicht verpassen und der Fernseher ist auf eine grausame Weise weit weg von der Küche. Einundzwanzig Schritte waren das. Mindestens einundzwanzig Schritte zu viel. Doch die noch nicht ganz alte Frau hatte es rechtzeitig geschafft, die lokalen Nachrichten, die Seifenoper und die Historydokumentation zu schauen. Dieser Teil des täglichen Programms dauert 62 Minuten, zum Glück kam wenig Werbung, es waren ja die Öffentlich-Rechtlichen-Sender. Aber unglücklicherweise hörte sie ein Zischen aus der Küche bei 46 Minuten und 15 Sekunden. Ihre Erfahrung sagte ihr, dass auf A auch immer ein B folgte und dass es jetzt einer Handlung bedurfte. Aber ihre Beine waren alt und gebrechlich und Gertrud schaffte es nicht rechtzeitig, nachzuschauen: In der Küche hatten sich Rauchschwaden gebildet und der Feueralarm erfüllte die stickig-graue Luft der Wohnung. Gertrud kam ins Krankenhaus mit einer Rauchvergiftung. Die Ärzte sagten ihr, sie solle sich Hilfe besorgen. Einen Assistenten vielleicht. Das gefürchtete Wort fiel nicht. Gertrud Häuser weiß, das Schlimmste am Altsein ist nicht die Langeweile. Das Schlimmste ist, nicht mehr ernstgenommen zu werden.
Ihre Tochter kam sie besuchen. Aus Pflichtbewusstsein, nur aus Pflichtbewusstsein. Gertrud weiß, dass das nicht immer so war. Früher war sie traurig darüber. Mittlerweile war das eines der Dinge, die sie akzeptieren konnte. Das war auch so eine Sache, die man im Alter lernte. Sie war nicht sicher, ob das eine gute Sache war. Konnte man sowieso nicht ändern.
„Hallo Mutti.“
Das Zimmer wirkte typisch klinisch weiß, das unangerührte Essen führte ein Stillleben. Blumen gab es nicht.
„Hallo, Christa. Allein hier?“
Christa hatte nämlich auch einen Mann, Thomas. Er war ein schmieriger Schnösel und Gertrud konnte nichts finden, was Christa an ihm mögen sollte. Außerdem war Thomas durch und durch uninteressant in allem, was er tat, aber er hatte die schreckliche Eigenschaft, sich überall wie ein klebender Schleim auszubreiten, den man nie wieder abbekam.
„Ja. Thomas, der arbeitet.“ „Aha.“
„Wie geht es dir?“ „Gut. Ich werde nach Hause gehen, bald.“
„Was ist passiert“ Christas Augen suchten einen Platz zum Verweilen, aber sie konnten keinen finden. Schließlich klebten sie am Fenster fest.
„Das was immer passiert: A und dann B.“
Christa hatte die Stirn gerunzelt. Sie verstand die einfachen Dinge oft nicht. Sie machte Allüren, sich hinsetzen zu wollen, aber blieb unentschlossen. Christa traf ihre auch Entscheidungen nicht selbst. Sie ließ Thomas die Dinge tun. Thomas mochte das. Christa akzeptierte das.
„Bist du sicher, dass du noch für dich sorgen kannst? Mit 93 ist es nicht schlimm-“ Christa kramte und griff nach den richtigen Worten, aber sie konnte keine entdecken. Gertrud half ihr.
„…in ein Heim zu gehen? Kannst du noch für dich sorgen, für dich selbst?“
Christa verstand wieder nicht. Christa war 52.
Schade.
„Ja, kann ich. Natürlich kann ich das. Bist du wohl schon debil?“
„Ich weiß es nicht; ich denke nicht. Mir ist nur langweilig.“
„Du bist alt, Mutti.“
„Du auch, Christa.“
Gertrud war eingeschlafen auf ihrem Bett und die Decke starrte sie vorwurfsvoll an. Noch ist sie in keinem Heim. Aber nach A kommt immer B.

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Autorin / Autor: Emily Pfeiffer, 16 Jahre