Gedankengut

Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Sarah Sachse, 22 Jahre

Meine Gedanken fühlen sich manchmal wie eine Collage an. Gedankenfetzen lösen Erinnerungen ab und manchmal weiß ich gar nicht, welche Aneinanderreihung von Gesichtern, Gesten, Wörtern und Bildern in meinem Kopf zu dem geführt hat, wo ich gerade gelandet bin. Es kann mit den kleinsten Dingen anfangen, und das Karussell in meinem Kopf setzt sich in Bewegung, meine Gedanken nehmen Fahrt auf. Ich setze den Blinker, um aus dem Kreisverkehr auszufahren und denke über die Pflege in Deutschland nach. Es geht mir nah, wenn einige meiner Kunden ihre Geschichten erzählen. Und je nach Beschaffenheit der Kompressionsstrümpfe haben sie dafür auch ein paar Minuten Zeit. Ich fühle mich wie eine stille Beobachterin, denn ich werde in das Heiligtum eines typischen Deutschen hereingelassen: das traute Heim. Und so vielfältig wie die Wohnungen, Häuser, Villen oder Zimmer sind auch die Menschen, die ich treffe.
Ich fahre an den zwölf Fahrradständern vorbei, die neben der Straßenbahnhaltestelle stehen und denke an meine pubertierenden Pfadfinder, mit denen wir hier ein Päuschen verbringen konnten, bevor wir wieder den Wald unsicher gemacht haben. Wie sehr ich es manchen Menschen wünschen würde, durch den Wald stapfen zu können und einfach nur die frische Luft einzuatmen. Es muss nicht einmal ein besonders schönes Waldstück sein - ein einfacher Waldspaziergang wird zum unerreichbaren Paradies, wenn man an sein eigenes Bett gefesselt ist. Und wenn dann die fröhliche junge Pflegekraft, die immer von den Pfadfindern erzählt, schon nach zwanzig Minuten Katzenwäsche wieder los muss, obwohl man sich doch so einiges erzählen könnte, macht es das Ganze nicht weniger frustrierend.

Ich fahre in die breite Straße ein, wo ich immer einen perfekten Parkplatz finde, parke, hüpfe raus, klingle, trällere ein „Guten Morgen“. „Ja, heute ist es schon viel wärmer als gestern!“ und „Ja, ich bin auch noch so halb am Aufwachen.“ „Gut so?“ „Alles klar, bis nächste Woche!“ Und ich sitze wieder im Auto und lasse meinen Gedanken freien Lauf.
Sie sind schon spannend, diese Kleinigkeiten, die kleinen aber feinen Unterschiede, die ich fortwährend zwischen meiner Wohnung und den Wohnungen, die ich betrete, feststelle.
Ich meine die Lokalzeitung, die ich mir nie bestellen würde und das Kaffeeservice, bei dem die Untertasse zum Milchkännchen passt. Auch gibt es bei mir längst nicht so viel Fleisch, die Schwedin mit Pappschild lässt grüßen. Ich liebe die Deckchen auf den Tischen und habe Respekt, wie man sich jeden Tag aufs Neue in ein frisches Hemd einkleiden lässt, obwohl man genau weiß, dass man das Haus nicht verlassen wird.

Generationenunterschiede und die verweichlichten jungen Leute und die mutigen jungen Leute, die für das Klima auf die Straße gehen, und als die Bomben fielen, erzählte der Onkel im Keller Witze. Und vom Trampeltier in Amerika kommt die Rede ganz schnell auf die lästigen Dinger, an denen die jungen Leute heute kleben, diese Handtelefone und wieso redet man denn nicht mehr miteinander? Ich halte kurz inne und drücke dann auf das Gaspedal. Doch eine 50er-Zone. Außerdem fühle selbst ich mich manchmal alt, wenn mir meine kleinen Pfadfinderinnen TikToks von sich zeigen und ich mir manchmal doch das Lachen verkneifen muss. Die Kids sollten sich mal mit meinen Kunden zusammensetzen und zusammen Selfies mit Snapchatfilter machen. Ich muss daran denken, wie wir mit der ganzen Gruppe Briefe an ältere Menschen geschrieben haben, die den Gottesdienst nicht mehr besuchen können. Auch wenn das nicht die Highlight-Gruppenstunde der Pfadfinder war, war es definitiv mein Highlight gewesen, denn keiner hatte erwartet, wie viele gerührte, auf Schreibmaschine getippte Antworten uns darauf erreichen würden.

Der Verkehr stockt, was ziemlich ungewöhnlich ist für diese Tageszeit. Ich werde nervös und sehe schon, wie ich aus dem Zeitplan zu fallen drohe. Als ich endgültig stehe und schon im Büro anrufen möchte, sehe ich die Demonstration vorne an der Straße. Vor mir beginnen die ersten waghalsigen Wendemanöver, die Ungehaltenheit wächst. Und dann erkenne ich die Kopftücher und sehe die Schilder. Ich höre die Musik und muss unwillkürlich mitwippen. Ich habe keine Ahnung, wofür demonstriert wird und was überhaupt auf den Schildern steht. Ich denke an meine liebenswürdige Kundin, die nicht verstehen kann, wieso man unbedingt nach Deutschland kommen muss, manche Dinge muss man doch aushalten, der Krieg damals war auch für alle hart, und keiner ist in ein anderes Land, um Handys geschenkt zu bekommen. Ich sehe schon die Fragezeichen in den Köpfen, warum denn auf den Schildern kein Deutsch, sondern irgendwelche arabischen „Hieroglyphen“ stehen. Und erneut denke ich daran, wie schön es doch wäre, wenn man sich mit verschiedenen Menschen hinsetzen würde, vielleicht auf einen Sitzsack, auf einen Teppich oder die Couch, um einfach mal Gedanken auszutauschen. Egal ob mit Deckchen auf dem Tisch oder ohne. Die äußerst kleine Demonstration neigt sich schon dem Ende und ich werde bald weiterfahren können. Da ich nun Lust auf Musik habe, schalte ich das Radio ein. Ich werfe einen Blick auf die Uhr und weiß, dass ich jetzt einiges aufzuholen habe. Aber das haben, wenn ich so darüber nachdenke, viele Menschen.

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