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Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Grace Crimen, 13 Jahre

Oktober 1899

„Ich werde reden.
Ich werde verhaftet werden, dafür, dass ich rede.
Trotzdem werde ich es nicht bereuen, denn bereuen kann man nur Fehler.
Doch der Fehler ist schon passiert.“

Das waren die ersten Worte, die Therese über ihre Lippen brachte. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie ignorierte ihren vor Aufregung rebellierenden Magen, reckte ihr Kinn in die Höhe, holte Luft. Dann begann sie zu reden:
„Ein Mädchen von 10 Jahren fragte sich einst, weshalb sie in der Stube sitzen, sticken, nähen und stricken lernen sollte, während ihr Bruder mit ihrem Vater auf die Jagd ging. Weshalb durften ihre zarten Finger nicht mit Holzschwert und Schild spielen? Warum durfte sie keine Hosen tragen, wie ihr Bruder, was ihm beim Fangen spielen einen Vorteil verschaffte, während sie über den Saum ihres Kleides stolperte? Sie meinte eine Antwort gefunden zu haben. 
Die selbe Antwort, die auch eine junge Frau von knapp 17 Jahren meinte gefunden zu haben. Sie fragte, weshalb sie nicht wie die Jungen ihres Alters Jura oder Medizin studieren dürfe. Warum durften all ihre Brüder lernen, wie das Herz funktioniert, wie ein Urteil zu fällen ist, sie aber nicht? Warum musste sie ihren Vater oder später Ehemann fragen, ob sie ihren Führerschein machen darf?
Und sie hier in den heiligen Wänden der St. Nikolai Kirche, meinen sie nicht auch die Antwort zu kennen?
Weil es Frauen sind.
Weshalb sollte eine Frau Hosen tragen, studieren, ohne Erlaubnis ihren Führerschein machen, nicht heiraten? Ist sie nicht einzig dazu da? Um Kinder zu gebären und den Haushalt zu führen. Um ihre Ehemänner zu unterstützen?
Man sagt: „Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine starke Frau.“
Doch hier ist der Fehler. Wie soll eine Frau stark sein, wenn ihr nicht die Möglichkeit dazu gegeben wird, stark zu werden? Die Antwort ist falsch. Es ist lediglich ein Fakt, entstanden aus den Fehlern solcher, die sich als etwas besseres sehen und zufällig Männer sind.“

Therese machte eine Pause. Einige Gesichter blickten zornig, andere jedoch schienen ihr zugehört, ja sie verstanden zu haben. Vielleicht konnte sie tatsächlich etwas bewirken. Von plötzlicher Zuversicht getränkt, trat sie hinter dem schützenden Altar hervor. Es war wie ein Schock, als die Blicke der Leute auf Thereses beigefarbene Hosen fielen. Ihre perlweiße Bluse bedeckte gerade noch ihre Schultern, was dem Großteil der Gemeinde ein empörtes Aufatmen entlockte.
„Fehler darf jeder machen, es gilt jedoch aus dem Fehler zu lernen und ihn zu beheben. Und um ihn zu beheben, bedarf es Aufklärung. Ich will euch aufklären, es so tun, wie Luther, als er die Bibel übersetzte und somit die Fehler der Kirche aufdeckte. Denn ich sehe nicht ein, weshalb ich, da ich eine Frau bin, nicht das darf, was ein Mann darf. Bin ich doch genauso belesen, kann ich doch genauso gut Auto fahren. 25 Jahre und dennoch bin ich nicht verheiratet. Ich lebe und tue niemandem Unrecht, stehe nur hier und fordere Gleichberechtigung.

Nervös biss Therese sich auf ihre Lippe, als die Kirchentür aufgeschoben wurde und Männer in Uniformen die Kirche betraten.
Angst, Panik, doch sie musste es zumindest aussprechen, wenn es sonst keiner tat. „Sprich weiter, ich verschaffe dir Zeit“, flüsterte der Pfarrer so leise, nur sie vermochte ihn zu hören.

„Paulus, 1. Korinther 14,34: Wie in allen Gemeinden der Heiligen, so sollen die Frauen in der Gemeinde schweigen, denn es ist ihnen nicht gestattet zu reden, sondern sie sollen Untertan sein, wie auch das Gesetz es sagt.
Das von Männern daraus gezogene: „Die Frau schweige in der Gemeinde“ ist ein einfacher Interpretationsfehler mit schweren Folgen. Mit dieser Aussage ist der Keuschheitsbund gemeint, den die Priester der katholischen Kirche eingehen müssen. Das ist das Gesetz der Kirche, denn sie sollten einzig offen für Gott sein, sich keiner Ablenkung in Form einer Frau hingeben. Die Frauen sollen also schweigen, da sie unter Gott stehen und wie alle Menschen erst als zweite Priorität kommen sollen. „Die Frauen“ ist dabei nur ein Beispiel, da auch Nonnen dieses Bündnis eingehen und sich nicht von Männern ablenken lassen sollen.
Paulus, 1. Korinther 14,35: Wollen sie aber etwas lernen, so mögen sie daheim ihre Männer fragen, denn es steht einem Weib übel an, in der Gemeinde zu reden.
Bei dieser Stelle bezieht sie Paulus auf die Geschwätzigkeit der Frauen, da sie während seines Gottesdienstes redeten. Auch hier sind die Frauen ein Klischee geschuldetes Beispiel, Frauen seien gesprächig. Es könnten ebenfalls Männer geredet haben.“

Die Polizisten standen nur noch wenige Schritte von ihr entfernt, der Pfarrer war zurückgewichen. Sie versuchte alles in einen Satz zu stecken, der ihr nur noch panisch verkrampft über die Lippen kam. Doch in der Kirche war es still. So still, dass sie meinte, sich selbst atmen hören zu können.
„Ich wünsche mir, dass alle Mädchen und Jungen die selben Perspektiven bekommen und nicht unter Gesetzen leiden müssen, die man sich nicht traut in Frage zustellen; dass sie ihre Meinungen und Interpretationen äußern können, ohne verhaftet zu werden.
Ich wünsche mir Gleichberechtigung.
Denn egal ob Mann oder Frau, sind wir doch alle Menschen und alle gleich.“

Nun war das Fass vollgelaufen. Die Polizisten strömten auf sie zu. Im Meer der blaugrünen Uniformen ergriff sie die Hand des Pfarrers und hörte trotz der plötzlichen Unruhe seine leise Stimme: „Du hättest das nicht tun dürfen Schwesterherz. Was soll ich nun Mutter erzählen?“
Die Polizisten packten sie rigoros an Armen und Beinen und rissen sie von ihm los. Emotionslos antwortete Therese ihrem Bruder: „Sag ihr, dass ich der Anfang der Gleichberechtigung war, der erste Schritt in Richtung Gerechtigkeit, das erste Wort von Luthers Übersetzung, der erste Gefallene auf dem Schlachtfeld, der jedoch am längsten in Erinnerung bleibt.“

Die Polizisten zerrten sie zum Tor, doch bevor sie die heiligen Wände verließ, rief sie ihrem Bruder noch zu:
„Und wenn sie fragt, was Gleichberechtigung bedeute, dann klär sie auf.“

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