Frühlingswiese und Maskenball

Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Lea Liselotte Wehler, 18 Jahre

Das Grundgesetz ist für mich wie eine Frühlingswiese, auf der gerade die Blüten ihre Köpfchen aus der Schale gekämpft haben und ihre bunten Blätter ausstrecken und entfalten. Viele Blumen wachsen dort. Jeder Mensch, der über diese Wiese wandelt, kann sich entscheiden, wie das Leben aussehen soll, wie das eigene Leben, das eigene Sein gestaltet wird. Dafür sorgt diese große, strahlende Blume in der Mitte der Frühlingswiese. Eine kunterbunte Dahlie mit Millionen, Billionen von Blättern – die Dahlie der Individualität. Ihr süßer, fantastischer Geruch liegt in der Luft und ihre Samen bringen Millionen, Billionen immer neue Blumen hervor. Jeder Mensch, der sich seinen Weg durch diesen Blumenozean bahnt, kann sich entscheiden, wie das Handeln aussehen soll, das Handeln losgelöst vom Sein. Dafür sorgt diese prächtige, leuchtende Blume im verwildertsten Teil der Frühlingswiese. Eine tiefrote Rose von aufrechtem Wuchs – die Rose der Freiheit. Niemand würde es wagen diese Rose zu pflücken, denn diese Pflanze wächst nur für sich selbst und gehört sich selbst. Jeder Mensch, der in Achtung an dieser Blume vorbeischreitet, muss sich nicht fürchten, denn auf dieser Wiese herrscht Frieden und Schutz für jede Blume der Individualität und jeden Rosenspross der Freiheit. Dafür sorgt diese glühende Blume am sonnigsten Fleck der Frühlingswiese. Eine schneeweiße Nelke reich an Trieben – die Nelke des Friedens. Sie ist so zahlreich an Knospen, dass dieses eine Gewächs über alle anderen Blümchen wacht, nicht das kleinste Gänseblümchen und auch nicht der fernste Lotus wird vergessen von dieser Nelke. So stehen sie da auf dieser wunderschönen Wiese – die Dahlie, die Rose und die Nelke.
Warum wird diese Schönheit immer wieder vergessen? Warum ist diese Gesellschaft nicht so wie ihr Grundgesetz? Warum nutzt sie nicht, was ihr Grundgesetz ihr zuspricht? Unsere Gesellschaft ist keine Frühlingswiese, in der die Menschen sind, wie sie wollen, wo sie sich ihrer Freiheit bedienen und für ihren Schutz und Frieden einstehen – unsere Gesellschaft ist ein Maskenball. Ein Maskenball auf dem sich niemand dazu entschieden hat, jemand zu sein, sondern ein Maskenball auf dem sich alle etwas unterordnen und in ihren Gewändern und Masken auf bekannte Farben festlegen: nur Männer, nur Frauen, nur Heterosexuelle, nur Homosexuelle, nur Inländer, nur Ausländer, nur Christ, nur Jude, nur Moslem, keinen einzigen Menschen. Und mit jedem Jahr schnüren alle ihre Masken enger, machen ihre Röcke länger und binden die Fliegen fester. Jeder trägt genau eine Farbe und alle, die eine Farbe tragen, rotten sich zusammen in einer Gruppe, untereinander streiten sich diese Gruppen und beschimpfen die anderen Gruppen. Ihre Identität glauben sie in ihrer Gruppe zu finden und die Probleme in den anderen Gruppen. Wo seid ihr, liebe Menschen? Die ihr die Masken fallen lasst, die ihr zeigt, dass ihr nicht nur ein oder wenige Substantive seid, sondern Millionen von Adjektiven und Verben? Wann wurde aus dem Sein nur Definition, nur Sein oder nicht sein? Wozu all die Schubladen, in dir wir einander stecken und nicht stecken, wenn wir doch alle einfach Menschen sein könnten... Menschen mit Hunger, Durst, mit dem Verlangen nach einem warmen Bett, nach Frieden, einer Toilette, mit der Sehnsucht nach Liebe, Erfüllung und mit viel Verzweiflung und Hoffnung.
Hätten all die Masken und der ganze Tanz wenigstens einen Sinn, doch auf diesem Maskenball wirbeln alle wild im Kreis herum. Manche tanzen Tango, manche Salsa, manche Walzer und manche Contemporary. Doch wenn wir die Tänzer fragen, so kriegen wir viele Worte aber keine Antworten. Warum sind wir auf diesem Ball? Was wollen wir? Wo wollen wir hin? Was wollen wir erreichen? Liebe Maskenträger, Liebe Menschen – egal wer – was ist unser Ziel? Wofür der ganze Zirkus – das Arbeiten, das Konsumieren, das Erwirtschaften, das Diskutieren, die Politik, die Kunst, die Nachrichten, die neuen Techniken, die Exkursionen auf andere Maskenbälle, die Zerstörung des Ballsaals? Wofür? Wir müssen nicht alle gleich tanzen, aber wir brauchen endlich einen Sinn. Ein Dafür und ein Dorthin.
So irren wir ziellos durch unseren Ballsaal - wäre es wenigstens nur ein Irren und nur die Ziellosigkeit, doch wo unsere Tänze und unser Treiben vor wenigen Jahren noch langsam und nachdenklich war, wird es heute jeden Tag schneller und stürmischer. Die pendelnden Standuhren im Ballsaal sind ausrangiert worden, jetzt stehen rasende Stoppuhren überall. Es tickt und tackt im ganzen Raum. Unsere einst gemächlichen Tanzschritte werden effizient, sie werden schneller und schneller. In den Köpfen rattert es. Aus dem Tanzparkett reißen wir das Holz und bauen, kreieren, die Ideen werden immer größer, bald strömt aus den Wänden unser selbstgemixter magischer Zaubertrank, das Lebenselixier – ohne dass wir vor dem Korkenknallen darüber nachdenken, dass die Stärksten auch am schnellsten beim Elixier sind. Ein Geheimnis nach dem anderen wird geknackt und entschlüsselt – die Folgen, die das hat, betrachten wir danach. Das Ballhaus wird immer voller und voller, die Wände geben mehr und mehr nach, wir tanzen so viele Bälle in diesem Ballhaus, der Boden ist abgescheuert von den Absätzen, aber die Ideen werden immer noch größer und nochmal größer – also noch eine Latte und noch ein Stützpfeiler niederstrecken, wir brauchen das Material. Langsam erdrücken die Tanzgäste einander, zuerst werden die am Rand zerquetscht und langsam gibt das Dach nach. Es hat schleichend angefangen, aus dem Schleichen ist jetzt ein Heranschlängeln geworden und bald kommt das Zuschnappen. Dann kracht das Dach des Ballhauses hinunter auf uns.
Bald sind wir tot. Wir liegen alle da. Unter den Trümmern unseres schönen Ballhaus und unseren Ideen. Den Ideen, die das Sterben nur noch grausamer gemacht haben. Vorbei mit Masken, Menschen, Zielen, keinen Zielen, Ideen, Langsam- oder Schnelligkeit und vorbei mit Dahlien, Rosen oder Nelken.

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Autorin / Autor: Lea Liselotte Wehler , 18 Jahre