Der Schuhkarton

Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Amel H., 26 Jahre

Ein alter Schuhkarton war die einzige Möglichkeit, gehört zu werden. Er stand in einer Ecke neben der Bio-Tonne, die randvoll war mit Bananenschalen und Kerngehäusen. In dem Karton befanden sich mehrere unordentlich gefaltete Zettelchen. Das letzte Blatt Papier, das heute noch reingeworfen werden sollte, befand sich in meiner Hand. Mit schwarzer Tinte schrieb ich die Gedanken nieder, die mir seit meinem ersten Arbeitstag auf der Seele brannten und nun endlich von jemandem gelesen werden sollten.
Meine Augen wanderten über die grelle Wand der viel zu kleinen Küche, in der die furchtbar unbequemen Stühle standen, die nach der Mittagspause nie jemand zurechtrückte. Die Wand war voll von Postern, die uns immer wieder an die Normen der Firma erinnerten. Auf ihnen standen in Großbuchstaben die Werte, die für unser Unternehmen am wichtigsten waren: Ehrlichkeit, Hilfsbereitschaft, Gleichberechtigung. Direkt über diesen Postern sah jeder in eingerahmten Bildern die relevantesten Leute der Firma. Die schweren Rahmen erinnerten an Gemälde von großartigen Künstlern, die Tausende von Besuchern in Museen besichtigen. Ich ging einen Schritt näher an die Wand, um mir die Fotografien genauer anzusehen.
Mit ernsthaften Mienen und schmierigen Grinsen starrten sie direkt in die Kamera – die Gesichter der reichen, weißen Männer, die sich über all die hart schuftenden Menschen stellen.

Wenig später nahm jemand den Schuhkarton mit – und mit ihm meine Hoffnung auf eine bessere Zukunft in diesem Betonklotz, der aus fünf Stockwerken voller unerfüllter Träume bestand. Der Drucker gab laute Geräusche von sich, wackelte ein paar Mal hin und her und schien dann erschöpft den Geist aufzugeben. Am Ende des Flurs flackerte noch immer das Licht. Auch nach über drei Wochen hatte es noch keiner geschafft, den Hausmeister zu kontaktieren. In meinem Kopf ging ich noch einmal den Brief durch, den ich in den Schuhkarton geworfen hatte.
Jedes Jahr steht ein solcher Karton in unserer Küche, der lieblos in eine Ecke geworfen wird. Per Flurfunk erreicht uns dann die Nachricht, dass wir anonym unsere Wünsche und Kritik zum Unternehmen äußern dürfen. Feedback sei schließlich immer herzlich willkommen.
Ich bat um Dinge, die leicht umzusetzen waren. Es musste keine weitere Person dafür eingestellt werden, was immer ein Plus für „die Großen“ war. Genauso wenig musste Geld dafür investiert werden, was auf der Liste von Gründen für ein klares „Nein“ immer ganz oben stand.
Ich bat um einfache Dinge.
„Bitte schaut mir in die Augen, wenn ich vor euch stehe. Seit 18 Monaten halte ich im Blazer gekleidet eine Präsentation nach der anderen, die ihr am liebsten absagen würdet. Ich merke es, dass ihr Frauen und ihre Ideen nicht ernst nehmen könnt, egal wie hart wir an ihnen arbeiten. Ich merke es, wenn ihr unter euren Tischen lieber auf euren Smartphones Nachrichten verschickt, denn jedes GIF ist interessanter als der Vortrag, der eure Karrieren vorantreibt. Seit Wochen bereite ich mich auf diesen Moment vor; ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass mein Herz nicht schneller klopft als sonst. Ihr klopft jedoch nur gelangweilt auf den Tisch, bevor ihr unseren Kunden begeistert meine Ideen anbietet. Mir wird ein nicht ernst gemeintes „Gut gemacht“ zugerufen, während ihr am Ende des Monats eine Null mehr auf euren Kontoauszügen seht.
Ich bitte euch darum, eure Hände bei euch zu behalten, wenn ihr mit Frauen sprecht. In euren Köpfen mag die Hüfte eine grüne Zone sein, doch hat man euch dies nie eindeutig gesagt. Bitte hört auf mit Ausreden wie „Auf der Weihnachtsfeier haben wir uns auch zum Abschied umarmt“ und hört auf, diesen Ausreden zuzustimmen.
Lasst Menschen sein, wer sie sind. David bekommt regelmäßig Blumen von seinem Freund ins Büro geschickt. Das Lächeln in seinem Gesicht ist mit nichts zu vergleichen, also solltet ihr die Beziehung nicht mit einer vergleichen, die in euren Augen „normal“ ist.
In vielen Ländern ist es auch normal, dass Jungen „Kim“ heißen. Und auch hier findet ihr eine Möglichkeit nach der anderen, euch darüber lustig zu machen. Fragt doch einmal nach der Bedeutung; ihr könntet mehr über andere Kulturen erfahren und euren Horizont erweitern.
Des Weiteren möchte ich euch um etwas bitten, was viele andere schon vor mir angesprochen haben: Bitte hebt euren Müll vor der Rampe am Eingang auf. Michael hatte schon oft Probleme damit, mit seinem Rollstuhl ins Büro zu kommen. Kurz eure Hilfe anzubieten, wäre das Mindeste.
Gemeinsam könnten wir Geschichte schreiben. Vielleicht verändern wir mit unserem Verhalten nicht die Welt, aber das Leben eines jeden Einzelnen in unserem kleinen Kosmos. Zusammen könnten wir den Ramadan feiern, an Chanukka Kerzen anzünden oder an Diwali unsere Lieblingsspeisen verteilen.
Ich weiß, dass wir meistens unsichtbar für euch sind, weil es nicht viele von uns in dieser Firma gibt. Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund oder auch Menschen mit Behinderung. Aber wir sind hier und versuchen unser bestes, damit wir gehört werden. Wir rennen von A nach B und brüllen wie Löwen, doch am Ende fühlen wir uns wie ein Goldfisch im Glas.
Es ist Zeit für eine Veränderung.“


Ich arbeite nun seit 22 Monaten hier. Ich bin gebunden an diesen Job, er ist der erste nach meiner Ausbildung. Die Miete muss gezahlt werden und auf dem Arbeitsmarkt sieht es nicht vielversprechend aus. Seit dem Schuhkarton hat sich kaum etwas geändert. „Die Großen“ haben uns nur zu einer Versammlung eingeladen und darüber berichtet, wie gut wir als Firma doch abgeschnitten hätten und, dass sich alle wohl zu fühlen scheinen. Wie immer geht es um den Durchschnitt, den Großteil der Mitarbeiter. Es geht um die privilegierten Männer, die von den Gemälden in der Küche auf uns herabschauen, während wir unsere Wünsche auf Papier schreiben. Alle hoben ihre Gläser und stießen an. Priya, David, Kim und ich tauschten still Blicke aus. Unsere Gläser berührten sich mit einem leisen „Klink“.
„Auf uns.“
Und wir alle versprachen, es nächstes Jahr erneut zu versuchen.

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Autorin / Autor: Amel H., 26 Jahre