Endhaltestellen und Spiegel-Fassaden

Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Emma B., 24 Jahre

Auf dem Weg zur Arbeit durch die Stadt komme ich mir manchmal vor wie in den Hunger Games. Nicht, weil man im Straßenverkehr das Gefühl kriegt, die Leute würden versuchen, sich gegenseitig umzubringen. Sondern weil schon auf den ersten Blick die Stadt wie in Distrikte aufgeteilt ist. Stillschweigend, aber offensichtlich.
Ich fahre durch das Touristen-Luxusviertel, vorbei an schicken Szene-Restaurants, Bürogebäuden mit Spiegel-Fassade und „vielfältigen Shopping-Erlebnissen“ für den modernen Menschen von Welt. 10 Minuten später steige ich aus dem Bus, Endhaltestelle, dort, wo auf einmal jedes zweite Kind von Armut betroffen ist und ihre Eltern im Durchschnitt 10 Jahre früher sterben als überall sonst in der Stadt.
Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Niemand darf benachteiligt werden. Egal weswegen auch immer. So steht es im Grundgesetz. Schöne Vorstellung. Und versteht mich nicht falsch: Ich bin froh, in Deutschland zu leben. Ich bin froh, dass ich mich nicht verschulden muss, um ins Krankenhaus zu gehen (sondern nur, wenn ich Zahnkronen brauche). Ich bin froh, dass bei uns nicht nur jedes Kind zur Schule gehen darf, sondern sogar muss. Ich bin froh, dass wir unsere Meinung sagen dürfen ohne Angst zu haben, dass wir wählen gehen können, ohne Angst zu haben, und dass wir überhaupt im Großen und Ganzen raus gehen können ohne Angst haben zu müssen. Das ist mir sehr viel wert. Damit kann man zufrieden sein und nur auf sehr hohem Niveau jammern. Umso mehr stört es mich, dass in einem so gut aufgestellten Land trotzdem so schlecht aufgeteilt wird.
Wenn man Pisa traut, dann liegt Deutschland beim Thema Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit noch immer stabil im guten Mittelmaß. Klingt eigentlich auch nicht so schlecht. Es macht einem erst dann Bauchschmerzen, wenn man das guten Mittelmaß in der Realität sieht. Wenn man mit Grundschülern darüber spricht, dass sie Lehrerin werden wollen oder Tierarzt. Wenn man aber weiß, dass sie hier – an der Endhaltestelle – statistisch gesehen eher gar keinen Schulabschluss machen als Abitur. Wenn reihenweise Bürogebäude mit Spiegel-Fassade gebaut und Kinder dafür jahrelang in Containern unterbracht werden. Wenn in den Medien von Inklusion geschwärmt wird und dann Kinder als nicht beschulbar abgeschoben werden, während Erzieher und Lehrkräfte reihenweise mit Burn-Out zusammenbrechen.
Absolute Chancengleichheit ist wahrscheinlich ein Traum. Mehr Geld bedeutet mehr Chancen, bedeutet bessere Gesundheit, bessere Ressourcen, bessere Förderung. Das lässt sich wahrscheinlich nicht so sehr schnell bis niemals ändern. Ungleichheit – im Sinne von Vielfalt – ist ja an sich auch was Schönes. Solange sie freiwillig ist. Nicht jeder will studieren oder Klavier spielen oder im schicken Szene-Restaurant essen gehen oder im Bürogebäude mit verspiegelter Fassade arbeiten. Aber ich würde mich in einer Gesellschaft wohlfühlen, in der jeder das tun kann, wenn er es möchte. In der jeder etwas wert ist, unabhängig davon, was er hat oder kann oder macht. Wo man nicht gefragt wird „Und was machst du so beruflich?“ und dann betreten geschwiegen wird, wenn man nicht richtig antwortet. Niemand darf benachteiligt werden. Und ich glaube, da lässt sich noch was machen.
Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der Bildung nicht davon abhängt,ob Papa ein teures Nachhilfeinstitut bezahlt, die große Schwester zumindest bei Englisch helfen kann oder Mama gar kein Deutsch spricht geschweige denn lesen kann und neben zwei Jobs auch gar keine Zeit hat bei den Hausaufgaben zu helfen. Eine Gesellschaft, in der Schule ein Ort ist, an dem man lernt zu lernen und nicht bestraft wird, weil man etwas nicht versteht.
Als ich zur Schule ging, war es noch etwas Besonderes in den Computerraum zu gehen. Heute brauchen schon Grundschüler am besten einen PC zuhause. Und wer nicht in der Klassen-Whatsapp-Gruppe ist, hat sowieso verloren – nicht nur weil man uncool ist, sondern auch alle wichtigen Infos verpasst. Bildung ist in Deutschland kostenlos. Theoretisch. Trotzdem zahlen Eltern pro Kind jedes Jahr gut 300 Euro für Schulmaterialien. Für manche kein Problem, für andere eben doch und dann macht es einen Unterschied, ob Kinder in den neuesten Nikes turnen können oder lieber gar nicht mitmachen, weil sie keinen Turnbeutel haben.
Und nach der Schule? Da sieht es dann auch nicht anders aus. Wie auch – wer immer nur an der Endhaltestelle zur Schule geht, der weiß auch nicht, was es sonst noch gibt. Zukunftstag und Praktika sind tolle Ideen, die aber nicht viel helfen, wenn jeder doch nur zu Mama und Papa geht und sonst auch keine Ahnung hat, welcher Beruf ihn oder sie interessiert. Von der Schule kommt da oft nur wenig Hilfe. Da werden Lehrpläne abgeklappert und Formeln und Gedichte auswendig gelernt, die man am Tag nach dem Test vergessen hat. Ja, auch das ist wichtig und zugegeben – nach der Schule habe ich doch hin und wieder gedacht „Ach. Dafür braucht man das.“ Trotzdem hätte ich mir eine Schule gewünscht, in der man sich mehr ausprobieren kann: Was kann ich gut? Was macht mir Spaß? Was will ich eigentlich anfangen mit meinem Leben? (Und eine Schule, in der man lernt, wie man Steuererklärungen schreibt. Das wäre auch sehr hilfreich gewesen).
Auf dem Gymnasium hat man uns gesagt: Ihr seid die Elite. Ihr studiert alle mal. Ausbildungsberufe wurden uns auf der Berufsbörse nicht vorgestellt. Warum auch? Abitur machen und dann eine Tischler-Ausbildung? Das wäre ja verrückt. Egal, ob man das gut kann oder nicht. Trotzdem möchte ich lieber nicht wissen, was den Schülern auf der Hauptschule gesagt wird.
Ich möchte Kindern (und eigentlich allen Menschen, denen ich begegne) etwas anderes vermitteln. Ich möchte mich bemühen, jedem die gleiche Chance zu geben und Rücksicht darauf nehmen, dass nicht jeder die gleichen Möglichkeiten und Interessen hat. Ich möchte, dass jedes Kind Spaß am Lernen und vor allem am Leben haben kann. Weil jeder Mensch etwas wert ist, egal was er zu bieten hat.

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Autorin / Autor: Emma B., 24 Jahre