Was mir Freiheit bedeutet

Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von S.H., 30 Jahre

Was bedeutet Freiheit für den Menschen? Das definiert wohl jeder anders. Und das ist auch gut so, denn Freiheit beinhaltet, sie individuell zu betrachten und auch ausleben zu können. Was bedeutet Freiheit für mich? Für mich bedeutet sie die Möglichkeit, zu essen, anzuziehen, zu sagen, zu denken und mich mit den Menschen und Interessen zu befassen, die mich fesseln oder eben nicht. Denn Freiheit bedeutet auch, etwas nicht tun zu wollen. Es gibt Menschen, die bereit sind, das ein oder andere Opfer zu bringen, um eben genau diese Freiheit zu erlangen.
Damit wären wir bei mir. Denn ich habe so einiges getan, um diese beschriebene Freiheit zu erlangen. Ich habe Entscheidungen getroffen und Handlungen vollzogen, die so schnell kein zweiter nachmacht.
Da stellt sich die berechtigte Frage was? Nun zum einen, bin ich mit 19 Jahren von zu Hause ausgebrochen, ja ausgebrochen im wahrsten Sinne des Wortes. Ich habe meinen Eltern einen Abschiedsbrief hinterlassen und bin abgehauen. Ich habe meine Familie, meine Sicherheit und Geborgenheit hinter mir gelassen. „Krass!“ würden jetzt manche sagen und das auch völlig zu Recht. Welches junge Mädchen wagt etwas so gefährliches? Wie kommt es überhaupt auf diesen Gedanken?
Tja, da spielen so einige Faktoren eine Rolle. Der erste wäre, meine langsame, aber stetige Reduzierung zur Gebärmaschine. Denn je älter ich wurde, desto mehr Verbote bestimmten nach und nach meinen Alltag. Zuerst fing es damit an, dass ich nicht mehr mit den Jungen aus der Nachbarschaft spielen durfte. Später wurden dann auch das Schwimmbad und das Tragen von Kleidung wie z. B. kurzen Hosen oder Röcken tabu. Schlussendlich durfte ich am Ende kaum noch das Haus verlassen, außer, wenn ich es unwiderlegbar rechtfertigen konnte. Gleichzeitig musste ich zusehen, welche Narrenfreiheit meine Brüder genossen und ihre Position dazu ausnutzten, mir das Leben noch schwerer als ohnehin schon zu machen.
Lange Zeit war ich brav und fügte mich. Ich hielt still, auch wenn ich bei manchen Ungerechtigkeiten nicht den Mund halten konnte. Das kam mir zwar oft teuer zu stehen, aber das war mir egal. Nicht fair ist nicht fair. Aus eigener Kraft verbesserte ich mich nach und nach schließlich auch in der Schule und machte eine gute mittlere Reife. Anerkennung bekam ich dafür allerdings auch nicht wirklich. Bekam ich sie dann mal, wurde sie schnell relativiert oder negiert, was fast noch mehr schmerzt, als gar keine Anerkennung erhalten zu haben. Je älter ich wurde, desto mehr erkannte ich: Ich war meinen Eltern nichts wert, einfach aufgrund meiner Existenz als Frau. Was oder wie ich war, was mich interessierte oder was ich leistete, war vollkommen egal, weil sie nur an eins dachten: Da Mädchen ohnehin nichts wert sind, muss man sie überwachen und kontrollieren. Auf diese Weise entwickeln sie als potenzielle Heiratskandidatinnen einen tadellosen Ruf in der kulturellen Gemeinde und werden so begehrt, dass eine gute Familie auf sie aufmerksam wird. Dadurch haben sie später als Frau bestmögliche Chancen einen guten Mann zu heiraten, und seine Kinder auszutragen. Denn nur dafür sind Frauen letztendlich gut. Um Kinder zu bekommen. Punkt. Sie haben keine Forderungen zu stellen, nichts zu erwarten und schon gar nichts zu hinterfragen. Sie sollen sich ihrem geringen Wert fügen, sich brav und fügsam verhalten und dankbar dafür sein, dass ein Mann sich herablässt, sie zur Mutter seiner Kinder zu machen.
Nach diesen Vorstellungen hatte mein Leben abzulaufen. Meine Persönlichkeit, meine Intelligenz oder meine Interessen spielten überhaupt keine Rolle, weil ich nur ein Risikofaktor war, den es galt, ihn so klein wie möglich zu halten, um an den nächstbesten verschachert zu werden.
Als ich erkannte, was das für mich bedeutete, wurde mir auch bewusst: Ein solches Leben ist nicht erstrebenswert, zumindest nicht für mich. Ich sollte mich allem fügen, während um mich herum die Menschen frei und selbstbestimmt in eigener Verantwortung lebten? Diese beiden Erkenntnisse lösten einen so starken Konflikt in mir aus, der sich sogar körperlich auswirkte. Ich konnte nicht mehr schlafen, konnte mich gar nicht mehr konzentrieren und verlor die Freude an fast allem, was mir Spaß machte. Ich geriet in Gefahr, seelisch vollkommen einzustürzen und damit die Fähigkeit zu verlieren, für mich selbst ein erstrebenswertes Leben in Freiheit und Eigenverantwortung aufzubauen. Schließlich kam ich zu folgendem Entschluss: Ich wollte einfach kein Leben führen, mit dem ich mich überhaupt nicht identifizieren konnte. Innerhalb meiner Familie war dies nicht möglich, also musste ich für mich irgendwie einen eigenen Platz erschaffen. So beängstigend das alles auch war, wagte ich doch den Sprung ins kalte Wasser. Zuerst strampelte ich lange Zeit, aber schließlich lernte ich zu schwimmen und erreichte das andere Ufer. Ich gewann Unterstützung, absolvierte erfolgreich meine Wunschausbildung und bin jetzt seit ein paar Jahren im Berufsleben.
Ich gewann also meine Freiheit und lebe jetzt so, wie es mir gut tut. Frei und eigenverantwortlich. Dafür habe ich die Bindung zu meiner Familie geopfert und den Schmerz in Kauf genommen, niemals von ihr akzeptiert zu werden, aber nichts davon kommt auch nur im Ansatz an das Gefühl heran, Herr über sein eigenes Leben zu sein! Außerdem habe ich inzwischen mit vielen Menschen Freundschaft geschlossen, die mich so lieben und akzeptieren, wie ich bin. Dieser jahrelange Kampf war es allemal wert! Er wird auch noch eine Weile weitergehen, aber die Feuerprobe habe ich bestanden!
Rückblickend denke ich, dass die Menschen in unserer Gesellschaft insgesamt sensibler für dieses Thema werden müssen. Noch scheint nicht jedem ganz bewusst geworden zu sein, dass Freiheit und Selbstbestimmung trotz der Garantie im Grundgesetz in der Praxis nicht für alle ohne weiteres verfüg- oder erreichbar sind. Aber nur eine Gesellschaft, die sich dieses Problems bewusst ist, kann dies langfristig lösen.

Zum Wettbewerb

Autorin / Autor: von S.H., 30 Jahre