Fließgleichgewichte

Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Clara Deifel, 18 Jahre

„Ein Segelschiff ist keine Demokratie“, grinst der Skipper, „Wenn ich Anweisungen gebe, haben die ihre Berechtigung, da wird nicht rumdiskutiert.“ Wenn du dir ein Segelschiff inmitten des grenzenlosen Meeres vorstellt, woran denkst du? An Freiheit, weil du segeln kannst, wohin du möchtest – und wohin der Wind es zulässt? Teamgeist, weil man nur gemeinsam segeln kann? Verantwortung, weil jeder Verantwortung für sich selbst, für seine Kameraden und das Boot übernehmen muss? Vielleicht auch Mut, weil du loslassen, dich auf etwas Neues einlassen musst? All das sind Werte, die eine Demokratie unbedingt braucht, die eine Demokratie aber auch verspricht. Und da soll ein Segelschiff keine Demokratie sein?

Auf der anderen Seite: Wo gibt es hier und heute überhaupt Demokratie? Das Wort kommt aus dem Griechischen und bedeutet „Herrschaft des Volkes“. Die „wahre“ Demokratie schreibt aber nicht nur die Spielregeln vor, wie es das Wort vermuten lässt, sie vertritt auch elementare Werte, die sie selbst mit ihren eigenen Mitteln nicht abschaffen kann. Meinungsfreiheit ist eines dieser elementaren Werte. „Grenzen dicht und in der letzten Konsequenz auch von der Schusswaffe Gebrauch machen“, hört man zum Beispiel in der Presse. Ist das Demokratie?
Grenzen sind in diesem Zusammenhang momentan ein wichtiges Thema. Wo hört Meinungsfreiheit auf, und wo fängt Beleidigung oder Gefahr für die Demokratie an? Es geht um Grenzen um das Staatsgebiet, die gesichert werden sollen, und Grenzen um unsere Werte, die diese vor dem Verfall schützen sollen. „Ordnung an der Grenze“ wird gefordert, über „Transitzentren“, die keine Gefängnisse seien, wird diskutiert.

Grenzen sind allgegenwärtig. Du selbst bestehst aus Grenzen. Du kannst reisen und stößt an Grenzen materieller, finanzieller aber vielleicht auch psychischer Art. Du hast Fähigkeiten und Grenzen. Deine Privatsphäre ist eine Art Grenze um dich herum. Zwischen dir und anderen Personen sind Grenzen, vielleicht auch innerhalb von dir. Es gibt eine Grenze zwischen dem Bild, was andere von dir haben, und dem Bild, das du selbst von dir hast. Du baust Grenzen um dich herum, weil du mit manchen Dingen lieber nichts zu tun haben möchtest. Du lebst an der Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft. Du hast Träume, die in der Realität an Grenzen stoßen. Es gibt Ideen, die du umsetzen möchtest und Ideen, die du auf gar keinen Fall unterstützen möchtest. Dazwischen ist eine Grenze.

Auch unsere Gesellschaft hat Grenzen. Es gibt Dinge, die wir tolerieren und Verhalten, das wir nicht akzeptieren. Verschiedene Menschen der Welt fühlen sich verschiedenen Gesellschaften – mit all ihren Bindegliedern und Grenzen – zugehörig. Die Gesellschaft hat geschichtliche Erfahrungen und Erfahrungsgrenzen. Wie weit möchtest du gehen? Und wie weit wollen wir als Gesellschaft gehen? Die Antworten auf diese Fragen sind ein Fließgleichgewicht. Letztlich sind diese Grenzen eine Summe aus den Grenzen jedes Einzelnen. Grenzen und ihre Definition sind in gewisser Hinsicht immer etwas Menschengemachtes – und damit der Veränderung unterworfen.

Veränderung – was heißt das? Lassen wir sie selbst zu Wort kommen: Ich bin immer und überall, manchmal ganz offensichtlich, manchmal nur durch lange und aufmerksame Beobachtung festzustellen. Ich bin Identität und Nicht-Identität zugleich. Durch mich bleibt die Welt dieselbe und doch irgendwie auch nicht. Auch ich bin an sich immer dieselbe – und doch bin jedes Mal anders, manchmal positiv, manchmal negativ, meistens lasse ich mich nicht eindeutig bewerten, weil jeder eine eigene Perspektive auf mich hat und mich anders bewertet. Sowohl innere als auch äußere Faktoren können meine Ursache sein. Manche Menschen ersehnen mich, manche haben Angst vor mir. Aufhalten kann mich aber niemand. Wer mich unterstützt, braucht Mut. Mut zu handeln oder eine Handlung zu verweigern. Mut meine beiden Begleiter „Risiko“ und „Unsicherheit“ einzuladen. Eine Entscheidung zu treffen. Verantwortlich zu sein. Zu träumen. Enttäuscht zu werden. Mut loszulassen. Aber ich habe noch mehr Begleiter, sie heißen „Chance“, „Mitbestimmung“ und „Selbstverwirklichung“.

Hast du schon mal jemandem eine Chance gegeben, obwohl er/sie deiner Meinung nach keine verdient hat? Hast du eine/n Fremde/n mal mit ernsthaftem Interesse gefragt, wie es ihm/ihr geht? Hast du dich mal politisch für etwas eingesetzt, was dir wichtig ist? Liebe Mitmenschen, wollt ihr, dass die Welt sich ändert? Dann gebt euren Grenzen die Chance, sich zu verändern, dann nutzt die Chancen, die die Demokratie euch bietet! Sonst hat die Welt keine Chance.

Die Gesamtheit meiner Grenzen ist mein Segelboot. Und wenn ich dem Horizont entgegen fahre, wandern die Grenzen der Welt in mein Boot hinein. Aber irgendein Horizont bleibt immer bestehen.
Vielleicht sind Grenzen die wichtigsten Orte einer Demokratie. Grenzen definieren eine Demokratie. Grenzen stehen immer für Menschen. Grenzen sind die Orte zukünftiger Veränderung. Und gerade das definiert eine Demokratie.
Wenn man bedenkt, dass Ozeane die größten und Horizonte die dynamischsten Grenzen der Welt sind, muss ein Segelboot eigentlich eine Demokratie sein.

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