Klare Augen hinter Lumpen

Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Josefine Kießling, 18 Jahre

Der Kaffeebecher in ihrer Hand war angenehm warm, während der graue Schnee auf den Gehwegen und Straßen nahezu eisig erschien. Sie zog sich den Schal fester um den Hals, sodass er nun schon beinahe ihren Mund verdeckte. Der Wind war schneidend und die junge Frau war froh, doch ihren dicken Wintermantel angezogen zu haben. Als sie gerade um die nächste Straßenecke biegen wollte, hielt eine raue Stimme sie zurück.
„Haben Sie einen schönen Tag.“
Verwirrt blieb die junge Frau stehen und drehte sich nach allen Seiten um. Dann fiel ihr Blick auf die Frau, die auf dem kalten Boden hockte und sich gegen die Mauer hinter sich gelehnt hatte. Unter ihren Augen zeichneten sich tiefe Augenringe ab und um ihre Schultern trug sie bloß eine alte, lumpige Decke. Die Frau war sich nicht einmal sicher, ob es wirklich eine Decke war. Zögernd trat sie näher.
„Wie bitte?“
Die Frau sah sie an und obwohl sie einen doch recht ungepflegten Eindruck machte, waren ihre Augen klar und hell. Ein mildes Lächeln schlich sich auf ihre spröden Lippen, die von der Kälte ganz rissig waren.
„Ich sagte, einen schönen Tag.“
Die junge Frau blinzelte perplex. Da lachte die Frau in den Lumpen auf.
„Hat es Ihnen etwa die Sprache verschlagen?“
Die Frau fing sich wieder und lächelte zaghaft. Sie trat noch etwas näher, damit die anderen Menschen an ihr vorbei gehen konnten. Dabei bemerkte sie die missbilligenden Blicke nicht, die sie und die Frau in den Lumpen trafen.
„Ihnen auch einen schönen Tag“, erwiderte sie langsam. Sie war es nicht mehr gewohnt, solche Worte auszusprechen. Die meiste Zeit lebte sie einfach vor sich hin in den Tag, ging zur Arbeit, grüßte dort bloß halbherzig die Kollegen und wenn sie abends nach Hause kam, war sie so müde, dass sie manchmal nicht einmal mehr Lust hatte, mit ihrem Mann zu sprechen.

Ein leises Klappern riss sie aus den Gedanken und als sie sah, wie die Frau vor Kälte schlotterte und mit den Zähnen klapperte, reichte sie ihr ohne zu zögern den Kaffeebecher. Mit großen Augen wurde sie angestarrt. Doch während der Blick der Frau in den Lumpen voller Erstaunen und Dankbarkeit war, waren die Blicke der vorbeilaufenden Passanten schockiert und misstrauisch. Einige sogar empört.
„Die soll sich ihr Essen lieber selbstständig verdienen, als hier zu sitzen und zu betteln.“
„Schnorrerin.“
Die junge Frau zuckte unter diesen bissigen Kommentaren der anderen zusammen, doch die andere Frau schien das nicht zu stören. Es war wie ein Schlag ins Gesicht, als der jungen Frau bewusst wurde, dass sie wahrscheinlich an solche Sprüche gewohnt war. Anstatt den Kaffee nun zu trinken, stellte sie ihn beiseite und wickelte den Becher sorgfältig in einen löchrigen Schal ein.

Die junge Frau zog fragend eine Augenbraue hoch. Da lächelte die andere Frau und ein unbeschreibliches Glänzen trat in ihre Augen.
„Das werde ich heute Abend meinen Kindern mitbringen.“

Von diesem Tag an besuchte die junge Frau die Frau auf der Straße mindestens drei Mal die Woche, brachte ihr entweder warme Kleidung oder ein Brötchen vom Bäcker gegenüber oder eine Thermoskanne mit heißem Früchtetee. Sie erfuhr, dass sie vor einem Jahr ihren Job verloren hatte und sie seitdem niemand mehr hatte einstellen wollen, weil ihr das nötige Fachwissen fehlte. Um ihre zwei Töchter zu versorgen, die ohne Papa aufgewachsen waren, ging sie jeden Tag auf die Straße. Egal ob es schneite, stürmte oder regnete. Sie hatte keine andere Wahl.

Und seit jenem Tag tat es ihr die junge Frau gleich. Sie verließ bei jedem Wetter das warme Haus, um nach der Frau mit den zwei Töchtern zu sehen. Und da war es egal, ob es schneite, stürmte oder regnete.
Denn das war es ihr wert.

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