Wenn es draußen kalt wird

Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Christina M., 26 Jahre

Wetteransage:
"Eine kühle Brise zieht von rechtsaußen auf. Eine blau glänzende Schneeschicht von Emotionen droht, sich auf die Fakten-Formation zu legen. Die darunter liegende Medienlandschaft und die eigentlich felsenfeste Demokratie-Schicht sind durch Ablagerungen schlammbraunen Matsches besonders gefährdet.

Im Ernstfall könnte sich sogar ein Blizzard am schwarz-roten Horizont bilden. Er ließe Wut auf die Menschen einprasseln und Angst in ihre Gesichter wehen. Vor allem Zugezogene aus warmen Ländern würden unter dem Sturm leiden.

Aber auch alle Anderen nehmen sich lieber einen Regenschirm mit, selbst wenn dieser in der linken Ecke versifft. Die gelbe Sonne steigt sobald nämlich nicht mehr am Himmel auf. Sämtliches Grün könnte das Blauweiß unter sich begraben. Wer noch unschlüssig in der Mitte steht, sucht sich am besten einen Platz zum Überwint-"

Zapp.

Kopfschüttelnd schaltet die alte Dame den Fernseher aus. Ihr siebzigjähriger Körper fühlt sich ein wenig steif an, als spüre sie den angekündigten Kälteeinbruch bereits.

Plötzlich schießt ihr eine Erinnerung an die Zeit vor ihrer Geburt in den Kopf: Damals war das Land von einem katastrophalen Winter heimgesucht worden. Jahrelang hatte es nicht aufgehört zu schneien.

Schuld daran war der Klimawandel an der Regierungsspitze. Von oben war die Kälte in die Herzen und den Verstand der Menschen gedrungen. Aus dem warmen Miteinander war eine lose Anordnung zerbrechlicher Eisfiguren geworden. Diesen versprachen die Weihnachtsmänner an der Spitze zahlreiche Geschenke, wenn sie den Winter klirrend und krachend in andere Länder trügen. Da die Gehirne der Eisfiguren weitgehend gefroren waren – viele von ihnen schlotterten vor Unwissen und Angst – waren sie folgsam. Unzählige von ihnen zerbrachen selbst auf ihrer Reise.

Die Weihnachtsmänner interessierte das nicht. Ihre Versprechen hielten sie nur für sich ein und behielten alles, was sie zwischen den Scherben der Eisfiguren aufsammelten. Um von ihrer Heuchelei abzulenken, lobten sie unermüdlich die Schönheit der weißen Schneedecke. Andere Farben wollten sie nicht sehen.

Ein Glück, dass der Klimawandel damals menschengemacht war, denkt die alte Dame. Dadurch hatten ihn auch Menschen aufhalten können. Manche erinnerten sich nämlich noch an den Frühling, an seine Vielfalt und Lebendigkeit. Diese Frauen und Männer lehrten die verbliebenen Eisfiguren, dass man an den Weihnachtsmann nicht glauben muss. Allmählich schmolz dadurch der Frostpanzer. Unter ihm kamen wieder Menschen und ein zerfurchtes Land zum Vorschein.

Bald darauf zeigte sich die Sonne. Damit jeder von ihren Strahlen profitieren konnte, legten die Frauen und Männer die fruchtbare Demokratie-Schicht an...

...und zeugten mich, denkt die alte Dame. Heute hat sie selbst Kinder. 146 sind es an der Zahl. Manche von ihnen sind längst erwachsen: Sie sind standfest wie Leuchttürme, an denen sich die Menschen orientieren. Andere sind jünger und ändern ab und an ihr Aussehen – etwa, wenn kühle Winde die Menschen wie vor achtzig Jahren erkranken lassen. Epidemien breiten sich schnell aus, daher schützen die Kinder der alten Dame die Menschen und werden selbst von ihr beschützt. Jedes von ihnen hat für die Bevölkerung und das Land einen Wert.

Eigentlich wissen das die Menschen. Trotzdem treffen sie sich in letzter Zeit nicht mehr so oft mit den Kindern der alten Dame wie früher. Vielleicht sind sie des Sommers überdrüssig geworden – die Sonne schien in den letzten Jahrzehnten stark. Kein Wunder, wenn manche von ihnen einen Stich im Kopf bekamen und mit roten Gesichtern über diejenigen schimpfen, die ins Land kommen. Sie haben vergessen, dass auch anderswo auf der Welt Weihnachtsmänner den Winter bringen. Sie glauben, dass die Zugezogenen bloß mehr Sonne abhaben wollen.

Dabei ist die Sonne groß genug für uns alle. Warum verteilen wir ihre Strahlen nicht besser?, fragt sich die alte Dame. Sie ruft eines ihrer Kinder namens Sechzehn zu sich.

"Erinnere die Menschen daran, dass wir diejenigen schützen, die von den Weihnachtsmännern und ihren Schergen verfolgt werden", weist sie es an. "Aber setze die Ohrenschoner auf, bevor du hinaus in die Kälte watest..."

Die alte Dame ist sich sicher, dass sie ihre Kinder mit warmer Kleidung vor frostbedingten Krankheiten retten kann. Ihrem Sprössling Vier reicht sie eine dicke Jacke. "Du hast es schwer", sagte sie. "Du musst die Menschen erinnern, dass jeder glauben darf, woran er will. Aber ich glaube an dich!"

"Und ich glaube, dass die Menschen noch an die Freiheit ihres Glaubens glauben", entgegnete Vier zuversichtlich, bevor es das Haus verlässt.

Lächelnd wendet sich die alte Dame Fünf zu. Das Kind hat den Nachrichtensender im Fernsehen wieder angestellt und stellt wie immer seine Meinung zu dem Gesehenen in den Raum.

"Es ist gut, dass du das tust – ich werde dir auf keinen Fall einen Maulkorb anlegen", versichert die alte Dame ihm. "Sei so gut und sieh zu, dass kein Schnee auf die Medienlandschaft fällt."

Schließlich nähert sich die alte Dame ihren ältesten Kindern Eins, Zwei und Drei. "Auf euch zähle ich am meisten – warnt die Menschen vor dem Winter. Lasst sie nicht zu Eisfiguren werden, die leicht zerbrechen und sich gegenseitig an ihren scharfen Kanten schneiden", sagt sie. "Erinnert sie daran, was wir trotz unserer Unterschiede in diesem Land gemeinsam haben. Wir alle stehen auf der Demokratie-Schicht, egal, welcher Farbe wir uns zuordnen. Es gibt nicht nur blauweiß. Um das den Menschen klar zu machen, dürfen wir keinen Winterschlaf halten. Manche glauben nämlich noch immer an den Weihnachtsmann."

Eins, Zwei und Drei nicken und mischen sich unter die Bevölkerung. Sie haben ihre Winterkleidung vergessen, denkt die alte Dame besorgt. Dann aber lockert sich ihr steifer Körper.

Vielleicht brauchen sie die nicht, weil sie wissen, dass der Winter nie mehr so schlimm wie vor achtzig Jahren wird. Auch dieser Klimawandel ist menschengemacht – wir können ihn aufhalten, bevor es zur Katastrophe kommt. Den Frühling habe ich noch nicht vergessen.

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