Kapitulation

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Johannes, 25 Jahre

Mühsam kämpfte sich Melanie durch das dichte Unterholz. Von Zeit zu Zeit musste sie sich den Weg freischlagen.
Die Sonne, die langsam über den Horizont stieg, vertrieb den Nebel, sodass sie nun deutlich besser sehen konnte, doch schon nach kurzer Zeit rann ihr der Schweiß in dicken Tropfen über die Stirn.

Melanie zwängte sich durch ein besonders dichtes Gebüsch und stand plötzlich im Freien. Hinter sich den dichten Wald, vor sich einen sanften, lediglich mit niedrigem Buschwerk bestandenen Abhang. Dahinter erstreckten sich Wälder soweit das Auge reichte. Den meisten konnte man ansehen, dass sie noch jung waren. Melanie strich sich das lange, tiefschwarze Haar aus der Stirn und kramte in ihrem Beutel nach der Feldflasche. Das kühle Wasser tat gut. Sie träufelte sich ein wenig davon in die hohle Hand und wischte damit ihr Gesicht ab. Wunderbar erfrischend! Sie verschnaufte noch einen Augenblick lang, dann musste sie weiter. Wenn sie vor Einbruch der Dämmerung ankommen wollte, konnte sie sich nicht erlauben zu trödeln. Beim Gedanken daran, dass sie diese Strecke früher mit dem Auto in weniger als einer Stunde zurückgelegt hätte, konnte sie ihren Ärger kaum unterdrücken. Früher, als es noch Autos gab und Straßen.

Nur widerwillig erinnerte sie sich daran, wie vor gut zehn Jahren die ganze Welt auf den Kopf gestellt worden war. Sie war damals Büroangestellte mit einem ganz passablen Einkommen gewesen und war trotz ihres Übergewichts auch bei den Männern gut angekommen, wenn sie sich auch immer gescheut hatte, eine feste Beziehung einzugehen. Ihre Freundinnen hatten ihr vollkommen ausgereicht. Ihr Leben war perfekt gewesen, bis sich mit einem Schlag alles für immer verändern sollte.
Alles hatte 2030 mit den großen Klimakatastrophen begonnen. Schon lange vorher hatten Wissenschaftler, Umweltschützer und selbst Politiker vor der Gefahr gewarnt. Später war sogar die Wirtschaft auf den Zug aufgesprungen und befriedigte mit immer neuen, immer ausgefalleneren „grünen“ Technologien die steigende Nachfrage. Doch immer standen andere Interessen im Vordergrund. Ein möglichst vorteilhaftes Wahlergebnis, die höchste Gewinnspanne, das Ansehen im Bekanntenkreis. Jeder wusste, dass die Bemühungen nicht ausreichen würden, doch anstatt zu tun, was getan werden musste, pflegte man sein umweltbewusstes Image und sah zu, wie sich das Zeitfenster zur Abwendung der Katastrophe unerbittlich schloss.
Erst als das Unausweichliche eintrat, Stürme, Überflutungen und Erdbeben ganze Landstriche entvölkerten und selbst Absolventen angesehener Universitäten in groß angelegten Forschungsszenarien vorsichtige Schätzungen über das bevorstehende Ende der Menschheit abgaben, kam Leben in die Verantwortlichen. Binnen weniger Tage wurden Reformen durchgesetzt, die sonst Jahrzehnte gedauert hatten. Doch wie radikal die Maßnahmen der überstürzt eingesetzten Weltregierung auch ausfielen, sie reichten nicht einmal annähernd aus, um das Versäumte wiedergutzumachen.

Melanie blinzelte in die Sonne, die nun ein gutes Stück höher stand. Bald musste es Zeit für den täglichen Regenguss sein. Sie zog sich die Kapuze ihres Anzuges über den Kopf. Sie hatte nicht schlecht gestaunt, als er damals einfach in einem Baum gehangen hatte, gehalten von hauchdünnen Fäden. In den Zweigen wimmelte es von fremdartigen Spinnentieren und Melanie hatte gemacht, dass sie wegkam. Rückblickend war sie beinahe sicher, dass es diese winzigen Tiere gewesen waren, die den Anzug für sie gesponnen hatten.

Als Melanie ihren Weg fortsetzte, folgte sie dem Bach, wodurch sie wesentlich schneller vorankam und hing wieder ihren Gedanken nach.
Sie erinnerte sich an den Unmut der Bevölkerung über die vielen Gesetze, Verbote und Steuern der neuen Weltregierung. Die Autofahrer hatten getobt. Doch die Auswirkungen auf die Wirtschaft waren wirklich verheerend gewesen. Seltsam praktisch, dass gerade in diesem Augenblick FUTURE – ein Zusammenschluss der bedeutendsten Internetgiganten – mit einer superintelligenten allgemeinen KI aufwarten konnte: Atum, war der Name der Maschine, die von nun an über das Schicksal der Menschheit bestimmen sollte. Zuerst hob sie die erlassenen Gesetze auf, wofür sie weltweit phrenetischen Jubel erntete.
In blindem Vertrauen bauten die Menschen all die Dinge, die die Maschine entwickelte und als sie schließlich forderte, alle Menschen sollten sich einen speziellen Chip einpflanzen lassen, gab es nur Wenige, die so undankbar waren, sich zu weigern. Es handelte sich wohl um eine Art Hormonchip, der umweltschädliches Verhalten verhindern sollte. Kaum Jemand erkannte, was das bedeutete.
Als Atum nun begann, restlos alle Errungenschaften der Menschheitsgeschichte zu vernichten, leistete niemand Widerstand. Jegliche Form der medialen Kommunikation kam noch am selben Tag zum erliegen, sodass Melanie nicht wusste, was die Maschine noch tat, doch sie hatte teilnahmslos mitangesehen, wie Myriaden winziger Tiere oder Maschinen ganze Häuser und Städte in sekundenschnelle einfach verschwinden ließen. Sie wusste nicht, wie die Maschine das Ernährungsproblem gelöst hatte, sie hatte ihre Befürchtungen.

Als die Sonne zu sinken begann, erreichte Melanie, wie jeden Abend, ein Lagerfeuer. Dort saß bereits ein Mann, groß und athletisch, und löffelte Suppe aus einer Bienenwachsschüssel.
Als der Mann den Kopf hob und sich ihre Blicke trafen, geschah etwas, was sie seit gut zehn Jahren nicht mehr und in dieser Intensität überhaupt noch nie erlebt hatte: sie fühlte sich zu diesem Mann hingezogen. Er stand auf, kam auf sie zu und ihre eigenen Schritte beschleunigten sich unwillkürlich. Zorn wollte in ihr aufsteigen, als sie erkannte, was hier geschah. Sie zögerte. Ein letztes Aufbegehren. Wie hatten die Menschen nur so vollständig ihren eigenen Willen verlieren können? Dann war er da, seine Arme schlangen sich um ihren Körper, ihre Lippen trafen aufeinander und eine Sturmflut von Gefühlen fegte ihre finsteren Gedanken fort.

Mehr Infos zum Schreibwettbewerb