Der Zug ist abgefahren

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Neele Obst, 13 Jahre

„2035 werden 55%-60% des Energieverbrauchs mit Ökostrom gedeckt.“ Ich stehe am Bahnsteig und starre auf eine Werbetafel. All solche Aussagen schwirren durch die Medien und wiegen uns in Sicherheit. Ach, denkt sich ein jeder, das wird schon wieder. Das wird mich sowieso nicht mehr treffen. Natürlich gibt es dann auch die Person, die auf ihrem Präsidentenstuhl hockt und uns weiß machen will, dies alles entspränge einem Hirngespinst. Trotzdem nimmt die Klimaerwärmung rapide zu. Also bauen wir Windräder, um das Problem von heute zu lösen, im Wissen, dass das Recyceln der Rotorblätter ein riesiges Problem wird, wenn die Windparks erstmal ausdienen. Ein Glashaus wird auf Scherben gebaut. Dass es zusammenfällt ist gewiss, doch wann? Der Teufelskreis macht mich unglaublich wütend. Diese Untätigkeit, all die leeren Versprechen ziehen sich wie eine Schlinge immer weiter zu. Aber hey, das wird schon wieder, denke ich bitter. Und jeder von uns will mehr: mehr PS unter der Haube seiner Karre, mehr Kreuzfahrten, mehr Globalisierung, bedenkenlos Strom verbrauchen, mehr fliegen, Kuh und Schweinefleisch essen, ach vom Luxus bekommt niemand den Hals voll. Schuld wird in die Schuhe anderer geschoben, sodass niemand merkt, dass der Zug bereits abgefahren ist. Wir stehen am Bahnsteig, während es durch die Lautsprecher tönt: „Alle einsteigen, nächster Halt: Katastrophe!“ Und wir steigen ein, weil niemand etwas unternimmt, um den Zug zu stoppen. Zuerst werden die Bauern in Afrika abgeholt, deren Ernten verdorren oder überschwemmen. Ist dies ihre Schuld? Nein, doch das gierige Monster der Zerstörung reißt das Maul bei den Unschuldigen zuerst auf und verschlingt sie genüsslich. Irgendwann im Laufe der Reise kommt der Zug nach China, Europa und in all die Teile der Erde, die das Chaos auslösten. Sie steigen alle ein. Sitzen einfach da, ohne einen Finger zu rühren, um die bevorstehende Katastrophe zu verhindern. Und auch ich steige einfach ein. Während der Fahrt ziehen sie die Gardinen zu, um die Augen vor der Zerstörung zu verschließen. Aber wenn der Zug an den letzten Fleckchen Heilem vorbeikommt, öffnen sie die Vorhänge. Gewaltige Gebirge ragen so hoch in den Himmel, dass deren Gipfel in den Wolken zu verschwinden scheinen. Ein silberner Bach entspringt am Hang des Berges und schlängelt sich seinen Weg zwischen den Giganten. Auf den weiten Wiesen blühen die exotischsten und herrlichsten Blumen, die je ein Menschenauge erblickte. Es scheint so, als wolle niemand nach vorne gucken und die Augen vor der Realität zu öffnen.
Wir alle warten auf unsere Götter, den Messias. Ein Wunder muss geschehen. Doch nichts passiert und wir fangen an, an unseres Retters Existenz zu zweifeln. An dem letzten, was uns noch bleibt in der Stunde der Not. Ich sitze in meinem Abteil und frage mich, ob es so kommen sollte, kommen musste. Alles vergeht, wird zu Erde und daraus entsteht Neues. Ein natürliches Gesetz, dem alles unterliegt. Selbst die Dinosaurier, die Könige ihrer Zeit, mussten durch einen Kometen ausgelöscht werden, um den Menschen Platz zu machen, sich zu entfalten. Manchmal glaube ich, bekamen die Menschen ihr Großhirn, um sich durch ihre Gier beruhend auf Intelligenz, selber zu vernichten. Niemand solle sich einbilden, unser Untergang wäre zu bedauern. So viele Arten sterben täglich aus, weil die Menschheit begonnen hat, die Umwelt für sich zu verändern, statt sich dieser anzupassen. Eine Arroganz beherrscht unser Handeln, sodass die Abhängigkeit von Tier und Pflanze in den Hintergrund rückt. Deswegen sitzen wir nun alle in dem Zug. „In wenigen Minuten erreichen wir den Bahnhof: Tod! Hier endet ihr Zug. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt!“ Plötzlich werden die Gardinen von den Fenstern gerissen. Die Passagiere erwachen aus ihrer Trance. Panisch springen sie auf, rempeln rücksichtslos die Leute um und versuchen, aus dem Zug heraus zu kommen oder ihn zum Stehen zu bringen auf den letzten Metern. Doch dieser öffnet sich erst bei Ankunft und wurde zu lange mit Geldgier, Ignoranz und leeren Worten angetrieben, das der Wunsch ihn zu stoppen sich als sinnlos erweist. Ich muss auflachen, ein schmerzhaftes Lachen. Witzig, dass man erst begreift, wenn alles den Bach runtergeht. Wie die Irren schlagen die Passagiere gegen die Fenster und rütteln an den Türen. Niemand will begreifen, dass unser Schicksal bereits besiegelt ist. Früher hätte man ein Gesetz in Kraft setzten sollen, welches den Strom und Benzinverbrauches jeden Haushaltes begrenzt. Die Ressourcen strapazierten wir dann nicht über, doch wie es seit jeher ist, hätte die Wirtschaft Einspruch erhoben und die Stimmen der Vernunft ausgemerzt. Hätten wir die Ignoranz, Gier und Arroganz hinter uns gelassen und begriffen, dass die Dosis das Gift macht, so wäre vielleicht verstanden worden, dass unser Konsum uns zu Grunde richtet. Mit einem heftigen Ruck bleibt der Zug stehen. Alle verstummen. Die Zeit scheint für einen kurzen Moment eingefroren. Ein gemurmeltes Mantra schwebt durch die Abteile. „Das wir schon wieder, mach dir keine Sorgen. Es gibt kein Problem, das wir nicht lösen können.“ Das reden sie sich ein, wie sie es all die Jahre taten. Die Menschen treten alle durch die Tür hinaus, in ein Feuer, das sie legten, fütterten und das sie schließlich selbst vernichtet.

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Autorin / Autor: Neele Obst, 13 Jahre