Gefangen im System

Beitrag von Annelie Pfeil, 12 Jahre

Wir schreiben das Jahr 2353. Bis heute hat sich vieles verändert. Nichts ist mehr so wie früher. Die Spuren eines blühenden Lebens in der Vergangenheit lassen sich nur noch in Büchern, Geschichten und Bildern erfassen. Die Erde leidet noch immer unter einer massiven Überbevölkerung. Aus den fast 8 Milliarden Menschen im Jahr 2020 sind mittlerweile fast 200 Milliarden geworden. Die Knappheit an Nahrungsmitteln, Lebensraum und anderen wirtschaftlichen Ressourcen hat das Leben geprägt. Zwar ist die Energie-Versorgung über die alternative Stromerzeugung abgedeckt, aber dennoch sind Rohstoffe wie Holz oder Erze rar und kostbar geworden. Der Klimawandel, die Wasser- und Nahrungsknappheit stiegen an, sind mittlerweile aber fast wieder unter Kontrolle. Ein neues System der Regierung musste her, denn immer mehr Müll und Chemikalien im Wasser oder an Straßenrändern machten das Leben nahezu unerträglich. Es drohten viele Kriege.

Hallo, hier ist 010912, aber alle nennen mich Emma. Ich werde heute 23 Jahre. Ein Geburtstag ist eigentlich der Tag worauf man sich 364 Tage pro Jahr freut. Aber der 23. Geburtstag ist in dieser Welt kein guter Tag. Bis zu diesem Tag verlief mein Leben toll. Von der Nahrungsmittelknappheit, die noch vor 150 Jahren die Menschen in den Hungertod trieb, ist seit der Einführung des neuen Systems nichts mehr zu spüren. Das neue System gibt es nun schon seit 100 Jahren. Ein anerkannter schwedischer Wissenschaftler hatte die Idee: Man verbringt die frühen Jahre der Kindheit bei seinen Eltern, wächst später dann auf in einer der vielen Erziehungseinrichtungen des Systems und geht zur Schule. Man kann seine Freizeit selbst einteilen, hat Zeit sich zu verlieben und kann, wenn man will, ein eigenes Kind bekommen und dies dann auch in den ersten Jahren begleiten. Jetzt hat jede Familie wieder eine eigene Wohnung. In den Straßen ist wieder Platz für Grünes. Allerdings hat das neue System einen Haken: Man wird an seinem 23. Geburtstag in einen Tank gesperrt und darf dort ungefähr 40 Jahre in einer virtuellen Welt sein Dasein >>genießen<<. So stellen es zumindest die Wächter dar. Die Wächter kontrollieren die Welt. Die Tankies erledigen die Arbeit jetzt virtuell. Mittels eines Scanners, der die Augenbewegungen erfasst, werden Computer gesteuert, die dann sämtliche Arbeiten übernehmen (Reinigung, Produktion u. s. w.). Auch der Unterricht an den Bildungseinrichtungen erfolgt virtuell über Lehrer aus den Tanks. Die Wächter sind dazu da, das Geschehen in den Tanks und auf den Straßen zu überwachen. Sie dürfen ihr gesamtes Leben auf der Erde verbringen. So wurde es in fast allen Ländern eingeführt. Die Vorteile wurden überall ausschweifend dargestellt. Durch die Unterbringung in den Tanks steht mehr Lebensraum für die Jüngeren zur Verfügung. Durch die begrenze Lebenszeit draußen haben die Menschen auch viel weniger Zeit, um Kinder zu bekommen. Der Nahrungsbedarf reduziert sich in den Tanks auf ein Minimum. Alle haben ein sorgenfreies Leben: Krankheiten spielen keine Rolle mehr, die Unterhaltung erfolgt virtuell. Wenn sie die ihnen zugewiesen Arbeit erledigt haben, können sie über virtuelle Welten miteinander kommunizieren. Durch die Zugabe von speziellen Medikamenten in die konservierende Flüssigkeit des Tanks fühlen die Insassen nur noch Glück und Zufriedenheit.

Aber: wer sich gegen das System stellt wird beseitigt. Und nun stehe ich hier. In 1 Stunde geht es los. Ich habe schon viele hier verabschiedet unter Tränen, doch jetzt bin ich an ihrer Stelle. Ich hatte Angst. Wovor wusste ich nicht, aber sie war da. Ich umarmte jeden meiner Freunde noch einmal. Vor dem letzten blieb ich stehen. Tristen, mein Freund, sah mich an. Sein Blick war voller Trauer. Er ist ein Wächter und wird nun die nächsten 40 Jahre oder so nur noch meinem fast leblosen Körper ansehen können. Tristen drückte mich an sich und schlang seine Arme fest um mich. Meine Tränen fielen auf seine royalblaue Uniform mit seiner Kennnummer 180956. Er ließ mich los und küsste mich ein letztes Mal sanft auf die Stirn. >>Emma<<, flüstert er meinen Namen. Es war soweit. Ich ging in einen langen dunklen Gang und drehte mich hilfesuchend um. Gerade noch konnte ich Tristans dunkelblonde Locken erkennen, bevor die schwere Eisentür ins Schloss fiel. In einem kalten, hellen Raum erkundigte man sich nach meiner Gesundheit, gab mir Spritzen und bat mich, mit einer speziellen Seife zu duschen. Als ich fertig war, hatte ich das Gefühl immer schwächer zu werden. Ich wurde in eine riesige unterirdische Halle, die mehrere Kilometer groß sein musste, geführt. Vor mir lagen Millionen Männer und Frauen. Ich würde bald dazugehören. Sollte mich das freuen oder sollte ich einfach wegrennen? Mit gemischten Gefühlen mit überwiegenden Anteil an Trauer ging ich auf so einen grauen Kasten zu. Es war sehr still, man hörte nur das Surren des Stromes, durch den Millionen von Menschen leben konnten. Ich stieg in den für mich vorgesehenen Tank. Die Wächter schwärmten uns immer vor, was das für ein tolles Ereignis und was es für ein Fortschritt in der Geschichte der Menschheit war. Nur so sei die Erde zu retten. Mittlerweile lag ich zitternd in dem Tank. Wen oder was würde ich am meisten vermissen?

Mit einem Summen schloss sich die Klappe und ich wurde mit einem süßlichen Duft aus meinem Leben gerissen. Durch den Duft wurde ich wie sanft in Watte gepackt und alle meine Gedanken wurden mir aus dem Kopf gespült. Meine Sinne vernebelten sich. Ich war zu schwach und ließ es einfach geschehen. Dann wurde alles schwarz, bevor mein neues, virtuelles Leben begann…

Einsendungen zum Schreibwettbewerb

Autorin / Autor: Annelie Pfeil, 12 Jahre