In roten Schuhen

Beitrag von Carolin Mackert, 22 Jahre

Als ich sah wie sie mir aus der Ferne zuwinkte, konnte ich mein Lachen nicht mehr zurückhalten. Sie war verrückt, ja das stimmte. Auch wenn ich mich niemals getraut hätte es ihr ins Gesicht zu sagen, wusste auch sie, dass es so war. Verrückt, aber nicht auf die Art, die Männer wie ich anziehend finden würden. Es war das merkwürdige Verziehen der Mundwinkel, das dümmliche Achso, das Hochziehen ihrer Augenbrauen. Oder die viel zu laute Stimme, die sie vor allem dann einsetze, wenn es niemand tat. Das Picknicken an Straßenrändern, das Zähneputzen im Tankstellenklo. Oder einfach ihr starrer Blick, den sie erst von ihrem Gegenüber wegnahm, wenn es sich abwandte.
Ich wusste wer sie war, zumindest glaubte ich es zu wissen. Teil der Stadt war sie, seine Verkörperung.
Zugegeben: Manchmal zweifelte ich, wen ich tatsächlich vor mir hatte – daran merkte ich, wie gut sie ihre Rolle spielte. Beeindruckt war ich dann, bis ich mir erneut unsicher war, ob es doch nicht bloß sie selbst war, die ihren Job erfüllte, ohne sich dessen bewusst zu sein.
Kreuzberg, das war ein Ort, der zu ihr passte. Es weckte ein seltsam nostalgisches Gefühl sie die Straße entlanglaufen zu sehen, wie sie spontan bei fünf schweigenden Menschen an einer Bushaltestelle stehen blieb und diese zu einem Gespräch nötigte. Es erinnerte mich an früher, damals, als sie dort nicht aufgefallen wäre, als man noch glaubte, die sozialen Folgen der Digitalisierung im Griff zu haben. Ihre roten Pumps hallten ihr voraus und so wusste man bereits, dass sie wieder unterwegs war, noch bevor man sie sehen konnte. Guten Abend Christian, langen Tag gehabt, wie? Du siehst trotzdem blendend aus! Was? Ach komm, hör auf. So ging das immer.
Bei Leuten wie Lisa musste sie öfter klingeln, die sagten oft, sie wollen das nicht. Trotzdem machten sie ihr jedes Mal die Tür auf. Dann redeten sie, oft stundenlang, rauchten. Manchmal lud sie dann noch ein paar Leute zu Lisa ein, wenn sie merkte, dass es notwendig war. Was erst unbeholfen wirkte, wurde schnell aufgelockert: Wer möchte einen Drink? Die Musik war oft gleich -  vielleicht kam es mir aber nur so vor - und sie tanzte mit ihren roten Schuhen über den Wohnzimmerteppich, animierte die anderen es ihr gleich zu tun. Auch Helena war gekommen, brachte selbstgemachte Pastéis de Nata mit, sie waren bestenfalls mittelmäßig. Der Wahnsinn, Helena! Du musst mir unbedingt das Rezept geben!
Wieder lachte ich. Mit ihren Pumps stand sie an das Brückengeländer gelehnt, schob ihre viel zu große Sonnenbrille auf den Kopf. Obwohl der Wind ihr Haar unnachgiebig ins Gesicht blies, band sie es nicht zusammen. Einmal sagte sie mir, sie spreche immer die Leute an, die am traurigsten gekleidet waren. Die, so meinte sie, seien wirklich einsam. Ich beobachtete, wie sie mit einem Mann redete, der wohl zunächst glaubte, sie wollte ihm etwas verkaufen, zumindest musste sie ihm einige Schritte folgen, bis er sein Tempo verlangsamte und ihr das erste Mal einen Blick schenkte. Bereits nach kurzem Wortwechsel zog er sich den schwarzen Hut vom Kopf und rieb sich mit dem Anschein eines Lächelns durch die Haare. Ich konnte sehen, wie sie beim Sprechen große Bewegungen mit den Armen machte, dabei die Augen weit aufriss und sich plötzlich einmal um sich selbst drehte. Nachdem der Mann sein Gewicht verlagerte und sich ihr zunehmend zuwandte, wohl etwas erwidernd, lachte sie so laut, dass sich ihr die vorbeilaufenden Passanten erstaunt zuwandten. Eine ältere Frau lächelte. Prävention nennt man das.
Man kannte sie hier. Die meisten Leute mochten sie. Ein paar wollten nichts von ihr wissen, die gab es immer, aber die meisten mochten sie. Es war schwer sie nicht zu mögen. Manche wussten gar nicht, was sie arbeitete, glaubten, die Verrückte treibe sich einfach so die ganze Zeit im Bezirk rum, rede mit den Leuten und veranstaltete kleinere Nachbarschaftstreffen. Die, die es wussten, fühlten sich zunächst beleidigt. Ich? Prävention, wozu? Doch sie gewöhnten sich irgendwann an den Klang ihrer Schuhe.
Ich erinnerte mich an meine erste Reaktion, als ich erfuhr, wie sie ihr Geld tatsächlich verdiente. Sie war bloß jemand, die Nähe vortäuschte, die fälschte und nicht besser war als ein leeres Computerprogramm - nicht besser als eine Prostituierte. So sah ich sie, heute schämte ich mich dafür, hatte ich es doch nicht besser gewusst.
Sie gehörte dazu. Zu schön war die Gewissheit, dass da jemand war, der zuhörte, der sich interessierte. Jemand, der Menschen an die Hand nahm, half, realen Kontakt herzustellen, aus der digitalen und urbanen Anonymität zu entkommen. Heute sagen viele in der Nachbarschaft, sie kennen sich über die Frau mit den roten Schuhen. Sie sagen es mit gewissem Stolz. Durch sie wurde aus dem schüchternen Blick im Treppenhaus eine Freundschaft – oder zumindest ein Guten Tag.
Prävention. Ein seltsam fachliches Wort, es passte nicht zu ihr. Professionelle Präventionistin gegen soziale Isolation, Angestellte einer landesweiten Stiftung für die Stärkung privater Beziehungsnetzwerke. Wieder lachte ich. Es war unbürokratisch: Man entschied sich für den Aufbau des Berufszweiges, der weniger Kontrolle als eine verbindende Instanz der Gesellschaft sein sollte. Keine Akten über sozial Auffällige, keine Überwachung. Es wirkte irgendwie. Mittlerweile gab es viele von ihr, besonders in Großstädten. Bald würde es auch mich geben, doch noch beobachtete ich. Sie allein entschied wann ich soweit sein würde.
Sie sang und zog ihre Schuhe aus. Während sie auf der Bank saß und Tauben mit Brot bewarf, trällerte sie ein englisches Lied, das ich nicht kannte. Zwei Kinder standen weiter entfernt, lachten, während das Gewicht ihrer Schultaschen ihre kurzen Wirbelsäulen beugte. Als sie die Jungs bemerkte, winkte sie ihnen zu. Verunsichert standen sie da, einer wollte etwas sagen, dann wandten sie sich ab.
Fragte mich jemand, wer diese Frau mit den roten Schuhen war, zögerte ich mit einer Antwort. Man musste sie erlebt haben, musste sehen, wie sich verhärtete Mienen bei ihrem Anblick erweichten. Manche glaubten, sie war verrückt, doch das stimmte nicht. Vielleicht war sie diejenige, die andere davor bewahrte verrückt zu werden.

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Autorin / Autor: Carolin Mackert, 22 Jahre