X + :) , " " + #

Einsendung zum Wettbewerb #netzheldin von Stephanie, 25 Jahre

X war 21, als das Netz sie auffraß.
Sie kam sich vor wie ein Maiskorn, das auf einem Haken steckte und von einem kleinen Fisch eingesogen wurde - es war schlecht für beide, aber nun war man zusammen und kam nicht mehr so leicht voneinander los.
Dazu kam noch, dass der kleine Fisch am Haken von einem großen Fisch geschnappt, der große Fisch von einem Alligator gefressen und der Alligator von einem Menschen erlegt wurde, der sich darüber ärgerte, dass der Alligator den großen Fisch und der große Fisch den kleinen Fisch gefressen hatte. Der Mensch zog dem Alligator die Haut ab, verkaufte sie, jemand machte daraus eine Tasche, mit der wieder jemand einkaufen ging und eine Dose Mais kaufte, in der X als Maiskorn schwamm.
Es ist also verständlich, dass X sich einigermaßen weichgespült und durchgeschleudert fühlte.
X war 21, als sie völlig durcheinander war.
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Mitten im Netz saß sie. Jetzt: wie hat sie da reingepasst?
Ein Computer ist nicht groß. Nicht mal ein großer Computer ist heute so groß, dass sie einfach so reingepasst hätte. Und man denkt vielleicht, sie war ja auch mehr so bildlich "drin", nur als Metapher, nicht echt. Aber in ihrer Wohnung war sie auch nicht, darum frage ich euch: wo war sie dann bitteschön?
Eben. Drinnen. Also:
Einen Mund hat so ein Netz nicht, das ist Quatsch, das braucht man gar nicht zu denken.
Ihr gesamter Oberkörper ging durch ein USB Kabel, das ging ganz gut. Der Kopf fiel als Krümel zwischen die Tasten des Keyboards und verschwand da. Ihre Füße lagen im CD Fach. Die Beine, Arme und fast der ganze Rest flossen als Strom nach. Ihre Hüfte musste draußen bleiben. Sie hätte ins Diskettenfach gesollt, aber sowas hatte ihr Computer natürlich nicht mehr.
X wurde auf alle Eingänge des Computers verteilt und zack, weg war sie.
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Im Netz sah es entweder genauso aus, wie man sich es vorstellt, oder ganz anders, oder ein bisschen anders. Das kommt darauf an, wie man es sich vorstellt.
Ich werde nicht großartig beschreiben, darum kann jeder nur hoffen, dass es ungefähr passt, was er sich so vorstellt. Nur kurz:
Es gibt Flächen und Wälder, flüssige Stellen und Kanten. Hier und da eine Schlucht und Tiere und Leute. Im Prinzip sieht es im Netz nicht viel anders aus, als sonst überall. Wer damit also gerechnet hat, wird nicht überrascht sein, dass es nun auch so ist. Es gab ungefähr genauso viel Boden wie Himmel.
Auf einem dieser Böden lag X verstreut. Ihre Hand lag etwas von ihrem Ohr entfernt, das Ohr lag in der Nähe des Fußes. Ihr Bauch war nach außen gestülpt und als sie ihn umkrempelte fielen ihre Finger heraus. Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder zusammengefunden hatte. Die Nase suchte sie lange, konnte sie aber nicht finden.
Als X wieder einigermaßen am Stück war, stand sie auf und sah sich um. Dann stellte sie sich auf den Kopf und stand nun richtig herum. Hinter ihr war keine Wand, aber es hing dort eine Uhr. Es war 10:01 und sie ging los.
Es ist wichtig festzustellen, dass X im Netz nicht auf Urlaub war. Sie war auf keiner Expedition, sie war keine Entdeckerin, sie hatte keinen geheimen Weg in eine geheimnisvolle Welt gefunden oder sich auch nur verlaufen. Sie untersuchte das Netz nicht mehr, als ein Schnitzel den Magen untersucht. Wie gesagt: das Netz hatte sie gefressen, jetzt war sie in seinem Bauch und man kann ja ahnen, was als nächstes kam.
Okay, zum Umsehen war trotzdem ein bisschen Zeit. Meinetwegen auch viel Zeit, denn die Zeit vergeht im Netz viel schneller. Oder es kommt einem zumindest so vor, weil man nicht essen muss. Sonst hangelt man sich von Mahlzeit zu Mahlzeit und ohne sie hat man keine Anhaltspunkte, wie die Zeit gerade vergeht. Darum sehen Magersüchtige ja auch oft so jung aus.
So kam es, dass X einige Wochen geradeaus lief ohne großartig voranzukommen. Sie merkte das, drehte sich 3 Tage lang nach links um und lief dann bis zum Ende des Monats weiter. Hier traf sie fast ein Reh, aber als sie bei ihm war, war es schon seit Stunden weg.
Einmal saß sie ein Jahr lang an einem Fluss. Oder einem Wasserloch. Einem Meer vielleicht. Sie schaute hoch zur Sonne und dann herunter aufs Wasser. Dort stand ein Dampfer. Und wie sie eine Weile zum Dampfer schaut, sieht sie, dass der Dampfer nicht steht, sondern langsam anfängt, sich mit der Strömung zu bewegen. Einen Motor konnte man nicht hören. Rauch kam zwar heraus, das war jedoch nur von der Heizung. Die war noch an. Langsam begann der Dampfer sich in der Strömung zu drehen, da war schon ein Monat um. Sie machte kurz die Augen zu, weil der Wind stärker wurde und als sie sie wieder aufmachte, hatte der Dampfer sich fast einmal herumgedreht und war ein ganzes Stück weiter links. X wunderte sich, warum niemand steuerte oder wegfuhr oder warum da so überhaupt gar nichts passierte. Nach einem halben Jahr sah sie, wie ein paar Hunde aus dem Führerhaus heraussprangen und über das Deck liefen. Da wurde ihr fast schlecht, weil die Hunde kein Fell mehr hatten, nur noch Dreck und statt Schwänzen nur noch Schorf. Dabei haben sie Sachen gefressen - das will man gar nicht wissen.
Als ein Jahr um war, blickte sie hoch zur Sonne und dachte sich "Diese Seite von der Sonne kenne ich schon, da kann ich genauso gut weitergehen.". Dann ging sie weiter.
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Oft ist es ja so: wenn es Gerüchte über dich gibt, bist du die letzte, die es erfährt. Da heißt es dann "Der Franz ist fett" und "Die Susi auch" und wem sagt es keiner? Dem Franz und der Susi. Na gut, schlechtes Beispiel, aber trotzdem klar. Keine große Überraschung. Darum war X schließlich schon sehr überrascht, als sie endlich in eine Stadt kam und alle sie anstarrten. Denn was sie nicht wusste, weil es ihr keiner gesagt hatte: Sie war natürlich nicht ohne Grund hier. Warum sollte irgendeine scheinbar völlig durchschnittliche junge Dame urplötzlich, ohne irgendeinen Hinweis auf irgendeinen Grund von gleich auf jetzt vom Internet gefressen werden? Eben - aus gutem Grund. Man muss aber sagen: ein Grund kann noch so gut sein, wenn ihn dir keiner sagt, dann weißt du ihn nicht. Vor allem, wenn es einer ist, auf den man beim besten Willen nicht alleine kommen kann.
Wie nun also alle da standen und sie anschauten und dachten und wussten "Oh, die Netzheldin", schaute X nur blöd zurück und hatte keine Ahnung, was los ist, was man von ihr erwartete und wer die Leute überhaupt waren. Nur das Gefühl, dass es gut wäre jetzt mal was zu sagen, das hatte sie recht deutlich.
"Was ist hier los?" sagte sie schließlich. Ein Satz, der ihr später noch oft peinlich war, wenn sie daran zurückdachte, aber mein Gott, so war das halt. Und was einmal gesagt ist, das nimmt man nicht zurück. Und entschuldigen soll man sich auch nicht.
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Wie war jetzt das Gespräch mit den Netz-Stadt-BewohnerInnen? Dialoge im Wortlaut wiederzugeben, sowas liegt mir nicht. Denn bei jedem Satz müsste man hunderte Sätze dazuschreiben, wie das und das betont war, wie jenes Wort falsch benutzt wurde, wo dieser Witz schon einmal gesagt wurde, was nur 2 oder 3 an der Diskussion beteiligte Leute verstanden, wie schnell gesprochen wurde und so weiter und so fort. Und selbst dann kann so ein Dialog noch missverstanden werden. Selbst wenn man etwas eindeutig als Witz kennzeichnet, indem man beispielsweise schreibt "Jetzt mal ein Witz:...". Nuancen und Ironie sind damit kaum zu ersetzen.
Und genau das wurde X jetzt auch von den Anwesenden erklärt. Im Netz war das größte Problem nicht die Gewalt und der Hass. Nicht die Ungerechtigkeit, das Lähmungsgefühl oder die hohen Preise. Denn wo jemand Gewalt ausübte, da wussten alle: da übt jemand Gewalt aus. Und wo jemand ungerecht war, da wusste man: da ist jemand ungerecht.
Das Eindeutige war nie das Problem. Das Eindeutige war oft Mist, aber man konnte damit umgehen. Musste man sogar. Dazu war es da, das Eindeutige. Dass man damit umging. Problematischer war das Vage. Der Zwischenraum. Die Unsicherheit. Andersherum: Wer die Ironie scheute, musste sich festlegen und tendierte zum Extremen. Es war nicht leicht, aber dafür war ja jetzt X da. Um irgendeine Lösung zu finden.
Das erklärte man X und sie verstand es. Klang ziemlich plausibel, was da gesagt wurde. Nicht leicht, aber logisch. Also sagte sie ja und legte los.
Es war gefährlich, alleine zu gehen. Darum vertraute man X eine Partnerin an. :). Und am nächsten Morgen zogen X und :) aus der Stadt heraus ins Netz.
Sie waren bereits eine ganze Weile unterwegs, als :) sagte "Das geht irgendwie alles leichter als gedacht.", denn das stimmte: eigentlich trafen sie nirgendwo auf Probleme. Alle Leute, die sie trafen, waren nett und freundlich und wenn es mal ein kleines Missverständnis gab, war das leicht behoben. So weit, so gut.
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Nun funktioniert es im Digitalen so: es gibt eine Null und eine Eins und wo die Null ist, ist die Eins nicht fern und andersrum. Auch wenn ein binärer Code mal so aussieht: 00000000000000000000000, wo man als Neuling nicht damit rechnen kann, dass es da irgendwo nochmal anders weitergeht, funktioniert das trotzdem nur, weil es irgendwo die Eins gibt. Was ich damit sagen will ist: wo die Heldin ist, ist die Bösewichtin nicht fern. Ob Netz oder nicht.
Vor den Netzbösewichtinnen hatte :), vor allem X aber nie Angst. Jedenfalls nicht, solange sie im Netz waren. Während sie in voller Aktion waren, hatten sie gar keine Gelegenheit Angst zu haben. Aber so ist es ja meistens: Lampenfieber hat man nur vor dem Auftritt. Vorfreude ist die schönste Freude. Der Hunger kommt beim Essen. Es ist nie das Fallen, das einen umbringt, sondern immer nur die Landung. Oder so. Als X später nochmal drüber nachdachte ging ihr schon ordentlich die Muffe. Aber das war wirklich sehr viel später.
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Es kommt mir jetzt komisch vor, das hier alles aufzulisten, da es, da wo ich herkomme, sowieso alle wissen, aber okay: die größte Bösewichtin im Netz war " ". Dicht gefolgt von #.
" " war Vertreterin der oben genannten "vagen Schule". # war eher aggressiv unsicher. Bei beiden wusste man nie so genau, woran man war. Wenn man ihnen etwas von sich verriet, konnte man sicher sein, dass sie daran irgendetwas finden würden, dass sie gegen einen benutzen könnten. Auch wenn man sehr genau aufgepasst hatte sich in alle Richtungen abzusichern. Ihre eigenen Aussagen hielten die beiden aber so sehr in der Schwebe, dass an sie kein Herankommen war.
X und :) überlegten lange, wie man gegen sie angehen könnte, denn es war wichtig, etwas dagegen zu tun. Viele Leute im Netz waren schon daran zerbrochen, dass ihre Aussagen von ungenauen Bösewichtinnen vereinnahmt wurden.
Sie entschlossen sich, einen online Kurs in Ungenauigkeit und Vagheit zu besuchen. Dabei mussten sie stark darauf aufpassen, nicht selbst Bösewichtinnen zu werden, sondern ihre eigentliche Bestimmung beizubehalten, während sie sich die Fähigkeiten von " " und # aneigneten. Das alles ging schneller als gedacht. In 7 einfachen Schritten wurden sie Expertinnen in Ironie. Ihre Aussagen konnten sie von nun an nach Belieben uneindeutig klingen lassen. Fast schon dialektisch. Wenn man nicht gewusst hätte, wie sie drauf sind, hätte man nicht mehr gewusst, wie sie drauf sind.
Das war Schritt 1 der Übertölpelung von " " und #.
Dann kam Schritt 2: X und :) besorgten sich von überall her Baumaterialien. Bretter, Steine, Lehm, Lötzinn. Alles, was es im Netz so gab wurde zusammengetragen. Daraus bauten sie an der Stelle am Wasser, von der aus X Jahrzehnte zuvor den Dampfer beobachtet hatte, eine Hütte. Um nicht zu sagen: eine Bar.
Ein Wandregal mit Getränken, eine Theke und einige Stühle wurden in den Raum gebaut, darüber hingen sie ein Schild mit der Aufschrift ":)", da das irgendwie freundlich klang.

Es dauerte nicht lange, bis " " und # vorbeikamen. "Oh, das sieht ja nett aus", sagte " " und man wusste nicht genau, ob sie das ernst meinte. "Stimmt.", sagte # mit einer gewissen Distanz. Die beiden gingen in die Bar ":)" und :) und X begrüßten sie mit neutralen Stimmen. " " und # schauten sich um, nahmen schließlich Platz und bestellten zwei Getränke. X schenkte ihnen ein.
" " war zu diesem Zeitpunkt ein ganz kleines bisschen misstrauisch, denn natürlich konnte selbst sie das Getränk nicht ironisch trinken. Hier musste sie alles auf eine Karte setzen und sagen: hopp oder flopp. " " fragte nun X folgende Frage: "Und das hier ist kein Gift? Das ist ein ganz normales Getränk?", woraufhin X so vage wie möglich antwortete: "Wahrscheinlich schon."
Und da sieht man, was das Vage mit ihnen machte. Hätte X mit einem eindeutigen "Nein." geantwortet, wäre # und " " das Kommende erspart geblieben. Hat sie aber nicht. Und da sie auch kein klipp-und-klares "Ja." herausbrachte, konnte " " ihr später nicht einmal sauer sein. Diese ungenaue Antwort nach dem Motto "Ich halte mir alle Türen offen" wurde also das Verhängnis von " " und #, da es sich natürlich um Gift, oder sagen wir, K.O.-Tropfen handelte, welche beide einschläferte. Daraufhin nahmen X und :) sie mit, warfen sie irgendwohin, woher sie nicht so bald wiederkommen würden und das war das.
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Warum war es dann irgendwann zu Ende mit dem Heldinnendasein? Warum, wenn das so gut geklappt hat, kam da nicht sofort die nächste, die gerufen hätte: "Gerechtigkeit!"? Oder der man hätte zurufen können: "Sorge für Gerechtigkeit!". Warum hat X nicht für Nachwuchs gesorgt, wenn es ihr doch so wichtig war?
Ungefähr deswegen:
In der Natur der Netzheldinnen liegt es, dass sie ein Doppelleben führen. Und wenn man dreißig Jahre lang ein Doppelleben führt, ist man ruckizucki 60 Jahre alt und dann ist man halt zu alt für Kinder. Da hätte man vorher dran denken sollen, so nach 10, 15 Doppeljahren wäre da noch was gegangen, aber so...
Das Ende war dennoch kein bewusst gewählter Schritt. X hatte keineswegs vor, einfach aufzugeben. Aber wie schon oft erwähnt, war sie nie freiwillig hier. Sie war hierher gezwungen worden. Das Netz hatte sie gefressen, um sie zu verdauen, ihr alle Energie abzuziehen und nun, da sie ausgelaugt war, wollte das Netz sie wieder loswerden. Das Netz drückte irgendwo in seinen Tiefen auf einen Knopf, auf dem "Eject" stand. X konnte sich gerade noch von :) verabschieden, die aber gerade eher wie :( aussah und zack, weg war sie.
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X öffnete die Augen. Sie saß vor ihrem Computer und bewegte sich nicht.
Dann schaltete sie ihn aus.
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Autorin / Autor: Stephanie