Beurteilen und verurteilen

Einsendung zum Schreibwettbewerb "KörperGEFÜHLE" von Vera, 18 Jahre

Man sieht sich selbst immer anders im Spiegel, als man sich sein Aussehen vorgestellt hätte. So ist meine Nase nicht ganz so gerade und meine Beine nicht so lang, wie ich sie gerne hätte. Drehe ich mich zur Seite, sehe ich mich noch einmal ganz anders. Wenn meine Haare am Morgen noch schön gekämmt waren, sehen sie jetzt verwuschelt und ungepflegt aus. Oder tun sie das nur für mich, und für die anderen sieht das normal aus?

Wie würde ich mich sehen, wenn ich mich selbst einen Tag lang unsichtbar beobachten könnte? Wie andere Menschen, die mich sehen. Dann könnte ich beobachten, wie meine Körpersprache sich zeigt, ob ich eher eine positive oder negative Ausstrahlung habe. Schlicht und einfach: Wie mich die anderen Menschen wahrnehmen.

Für den Menschen zählt oft das Aussehen. Beim Kauf von Produkten entscheidet das Design sehr oft über einen tatsächlichen Kauf, obwohl das vielen nicht bewusst ist. Doch wie ist das bei der Liebe? Genau so? Oder anders?
Theoretisch hat die Natur es ja auch so vorgesehen, dass man einen Partner nach bestimmten Kriterien wählt, um möglichst viele Nachkommen zu erhalten. Zum Beispiel wünschen sich viele Männer eine junge Frau, die noch viele Jahre fruchtbar ist und viele Frauen wünschen sich einkommensstarke Männer, da der vorhandene Wohlstand das Überleben möglichst vieler Nachkommen garantiert. Oder war das nur ursprünglich so? Nach welchen Eigenschaften wählt man seinen Partner dann heute? Nach dem Charakter? Aber wenn man überlegt, würde eine sehr hübsche Frau sich auf einen äußerlich unattraktiven Mann einlassen, bzw. noch mehr zulassen als Freundschaft? In solchen Fällen würde sich vielleicht nicht einmal eine Freundschaft entwickeln. Es ist leider die Realität, aber wir assoziieren mit so vielen Gesichtern, die wir in unserem Leben gesehen haben, unterbewusst bestimmte Charaktereigenschaften, dass der Spruch, dass nur die inneren Werte zählen, oft nur eine Illusion ist. Liebe auf den ersten Blick? Gerade dieser Blick ist zumal sehr auf die Äußerlichkeiten begrenzt. Eigentlich muss man jemanden erst mal kennengelernt haben, um sich in die Person zu verlieben. Und „ungleiche“ Paare? Oft werden sie Gesellschaft belächelt, obwohl sie vielleicht sehr viele gemeinsame Interessen haben! Denn was für den Außenstehenden zählt, ist das Aussehen. Natürlich, denn etwas anderes kann er ja nicht beurteilen, da er die Personen nicht kennt. Und so wird das Beurteilen zum Verurteilen.
Zum Glück denkt nicht jeder so, aber die Psyche des Menschen ist durchschaubar. Es gibt viele, die einfach nur glücklich sind, dass die beste Freundin nun endlich ihren Traummann gefunden hat, trotz gesellschaftlichen Idealvorstellungen.

Nun ist die Frage: Wie akzeptiere ich, dass jeder Mensch einzigartig ist? Dass auch ich ein Unikat bin?

Man sollte vielleicht einfach alles von der anderen Seite sehen. Kein Mensch ist perfekt, und dann sehen meine Haare eben etwas verwuschelt aus, aber das hindert mich nicht am Glücklichsein. Nach vielen Überlegungen möchte ich mich gar nicht mehr von der 3. Person aus beobachten, denn dann
würde ich nur versuchen, für die anderen Menschen perfekt sein zu wollen. Und das macht unglücklich.

Autorin / Autor: Vera, 18 Jahre