Bollywood - Teil 2

Popkultur nach altem Muster

Sanskrit-Dramaturgie

Doch mit Weltflucht allein lässt sich der Erfolg von Masala-Filmen nicht erklären. Er liegt sicher auch darin begründet, dass die Grundthemen und ihre Darstellungsweise auf den historischen Wurzeln der indischen Kultur basieren und damit tief im gemeinsamen Bewußtsein verankert sind. Sie orientieren sich an den Regeln der klassischen Sanskrit-Dramaturgie, die besagt, dass eine perfekte Vorstellung eine ganze Skala an Gefühlen hervorrufen muss. Diese Skala, die sogenannte "Rasa-Theorie" beschrieb der Weise Bharata in einem Lehrbuch der Schauspielkunst. Es wurde vermutlich zwischen 200 vor und 200 nach Christus verfasst. Rasas sind Gemütsstimmungen: Liebe, Komik, Traurigkeit, Heroisches, Schrecken, Ekel, Wut, Wundersames und Friedvolles. Diese Gemütsstimmungen werden in allen Facetten ausgespielt, auch wenn dafür ein stimmiges Drehbuch über Bord geschmissen wird. So passen auch die Tanzeinlagen ins Bild: sie entsprechen der Ästhetik der jahrhundertealten klassischen und folkloristischen Tanz- und Theatertraditionen und sind daher aus Bollywoodfilmen nicht wegzudenken.

Rituelle Spielchen

Das populäre indische Kino greift also auf Elemente und Muster zurück, die zum Teil mehr als 2000 Jahre alt sind! Das Mahabharata, eines der beiden grossen indischen Epen (das andere heißt Ramayana) ist achtmal so lang wie "Ilias" und "Odyssee" von Homer zusammen -und die in diesen Epen erzählten Geschichten sind auch heute noch fast allen Hindus bekannt - den armen wie den reichen, den gebildeten wie den ungebildeten. Ein Beispiel für die Verwendung von klassischen Mythen im Film ist das "leela", das rituelle Liebespiel, das in der Regel mit dem göttlichen Paar Radha und Krishna assoziiert wird. Gemeint ist nicht die Darstellung von Sex, die im indischen Kino verpöhnt ist, sondern eine Spielphase, die anhält, bis zwei Liebende sich kriegen. In dem Film "... und daraus wurde Liebe" von Rahul Rawail verliebt sich die Heldin in Bobby, der, wie sie zunächst meint, ihr zugedachter Ehemann sein soll. Es ist jedoch eine Verwechslung. Sie hat sich in den falschen Mann verliebt - und der richtige sagt ihr nicht zu. Aus lauter Zorn rennt sie in den Wald (ja - Wald, und sogar in einen Schweizer Wald). Bobby, dem sie sich noch nicht erklärt hat, folgt ihr. Ein Faden aus dem Pullover der Heldin verheddert sich an einem Baum. Während sie weitergeht, wickelt sich der Wollfaden um mehrere Bäume. Bobby macht sie darauf aufmerksam, indem er sie rückwärts dreht und der Faden sich eng um ihre Taille schlingt - als würde sie zu einem umwickelten Baumstamm. Um das deuten zu können, muss man wissen, dass es in Indien ein Ritual gibt, nach dem (verheiratete) Frauen einen bestimmten Baum (Banyan-Baum) mit einem Faden umwickeln. Der Baum steht u.a. für Fruchtbarkeit und wird deshalb besonders von Frauen verehrt, die sich Kinder wünschen. Die Szene unterstreicht also, platt gesagt, den Wunsch der Heldin, Bobby zu küssen, am besten gleich zu heiraten und Kinder von ihm zu bekommen. Und man kann sich ganz sicher sein, dass der Film genau dieses Happy End haben wird.

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Autorin / Autor: ~astrid~ - Stand: 23. Januar 2003