Woran merke ich, dass mich jemand mag?

Dank der Medien wissen Jugendliche über alle Fragen der Sexualität Bescheid - bis zur Orientierungslosigkeit...

„Die Jugendlichen wissen heute ziemlich genau, was Sodomie ist, stellen aber Fragen wie: Woran merke ich, dass mich jemand mag?“ Michael Niggel von der Münchner Pro Familia geht seit vielen Jahren als Sexualpädagoge in Schulen und Jugendzentren. Befragt er Jugendliche ganz am Anfang, was ihnen zum Thema Sex einfällt, hört er meistens zuerst die Stichworte von Gleitcreme bis Orgasmus – immer öfter aber auch Begriffe wie „Sadomaso“, „Nekrophilie“ oder der von Dieter Bohlen etablierte „Penisbruch“. Dank der Offenherzigkeit der Medien, für die nichts, aber auch gar nichts mehr tabu ist, sind Jugendliche absolut gut informiert - theoretisch...

Aber wenn es dann in der Praxis um den ersten Kuss oder den ersten Geschlechtsverkehr geht - geht gar nichts mehr. Der Kopf ist wie zubetoniert von den Hochglanzbildern der perfekten Bettszene aus dem Marienhof, dem Kuss-Einmaleins aus der Bravo oder den "Schulmädchen", die anscheinend immer bereit sind für Sex. "Muss ich das auch machen, muss ich auch so funktionieren?", "Warum ist es bei uns nicht so einfach, wie es da aussieht?", "Bei mir tat es aber weh"... Solche Fragen kommen dann erst nach einer Weile, aber: diese Fragen sind völlig berechtigt und "normal". "Unnormal" sind nur die Sexbilder, die die Medien präsentieren. Sexualität muss man entdecken, jeder auf seine Weise und in seinem Tempo. Eine gewisse Unbeholfenheit gehört zu Beginn dazu, man könnte sie ja - eigentlich - auch bewusst genießen. Wie schade ist es, wenn man zum ersten Mal Sex hat und sich selbst aus lauter Unsicherheit mit lauter Fragen den Spaß verdirbt: "Muss ich direkt noch mal können?", "Ähm, ich muss wohl mehr stöhnen" oder "Bin ich frigide, weil ich beim ersten Mal keinen Orgasmus hatte?", "Verlässt mich mein Freund, wenn ich keinen Analverkehr will?" Laut einer Forsa-Umfrage befürchtet jede/r dritte Jugendliche, im Bett nicht potent, leidenschaftlich oder nicht schön genug zu sein.

„Die Orientierung ist verloren gegangen“, sagt Niggel: „Es herrscht eine unglaubliche Verunsicherung.“ Sexuelle Perversionen sind in Talkshows längst selbstverständlich, und viele Jugendliche haben eher schon alle Details über Swinger-Clubs erfahren als selber zum ersten Mal geküsst. Schwer sei es dann, seinem eigenem Gefühl zu vertrauen, meint auch Niggel: „Die wissen einfach nicht mehr: Was ist erlaubt, was verboten? Wie viele Leute machen sowas eigentlich?“ Der Leistungsdruck ist enorm, für die spielerischen Seiten der ersten Liebe oder Herumexperimentieren ist kein Raum mehr, der ist längst medial belegt. Gegen den romantischen Kuschelsex eines Soap-Pärchens oder der gut ausgeleuchteten Bettszene eines Hollywood-Films kann man einfach nicht anstinken.

Auch Jutta Stich vom Deutschen Jugendinstitut berichtet von den Problemen, die viele Jugendliche mit den normativen Sexbildern haben. Sie hat im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung eine Studie über „Sexuelle Erfahrungen im Jugendalter“ erarbeitet und erzählt zum Beispiel von einem Jungen, der seinen ersten Geschlechtsverkehr als besonders schön empfunden hatte, aber verstört darüber war, dass es so lang gedauert hatte – viel länger als im Fernsehen. Im günstigsten Fall, so Stich, könnten die Medienbilder dazu beitragen, dass sich im Freundeskreis ein Gespräch über Sexualität ergibt - eines, das ehrlicher ist und das befremdliche sexuelle Praktiken als das einstuft, was es hauptsächlich ist: Mediengeschäft und nicht Realität. Eltern spielten, was das Reden über Sexualität anbelangt, kaum eine Rolle, sagt die Expertin. Wichtig seien Freunde, mit denen man offen und ehrlich über diese Themen reden könne.

Autorin / Autor: Redaktion - Stand: 9. Februar 2004