Der Schein trügt - Teil 9

von Ann-Katrin Kinzl

11. Kapitel

„Ich weiß nicht, ob wir hier etwas finden, Detective. Außer Schmutz, toten Fliegen und vergilbten Aktenordnern ist gähnende Leere. Außerdem riecht es hier doch sehr streng. Sogar Mr. Watson hat die Flucht ergriffen. Zudem fehlt uns die notwendige Befugnis, einfach hier einzudringen. Sie kann jeden Moment zurückkommen.“
„Nun stellen Sie sich nicht so an, Davis. Ich habe gefunden, was ich suchte. Schauen Sie.“
MacPhee zeigte auf das zusammengepuzzelte Foto eines Mannes mit Schnauzbart. „Sie wissen wer das ist, oder? Ernest Funderstow, Jane Hemmingways Vater! Wieso hat sie ein Foto von ihm? – Ganz einfach! Er ist ihr Vater!“
„Sie haben Recht, Mr. MacPhee. Alles macht einen Sinn. Die Zahlungen, das Motiv, der fehlende Schlüssel zum vergrabenen Geheimnis. Sie war eifersüchtig, weil Jane das ganze Geld geerbt hatte, ein Leben führte, das so ganz anders dem ihrigen war. Wir müssen sie finden, bevor sie Louisa etwas antut.“


12. Kapitel

Eine Eule hatte sich auf der Parkbank niedergelassen. Sie gab summende Töne von sich, die ganz im Gegensatz zu der unheimlichen Stille der lauen Sommernacht waren. Unüblich für diese Jahreszeit hörte man keine Tiere, die sich im Park tummelten und auch keine schäkernden Liebespärchen, die sich des Öfteren vor ihren Eltern in den Cothham Park in der Questroad flüchteten. Als schienen sie alle zu ahnen, was zu dieser späten Stunde noch abenteuerliches passieren würde, versteckten sie sich. Einzig und allein eine dunkel angezogene Gestalt schob sich in das fahle Licht der Straßenlaterne, um nur kurz darauf wieder in den Schatten eines Baumes zu schlüpfen, wo sie intensiv eine Parkbank abtastete. Plötzlich wurde der Park lebendig. Polizisten sprangen aus dem umliegenden Gebüsch und überwältigten den überraschten Mann, der ganz und gar keine Ähnlichkeit mit dem Mörder Jane Hemmingways hatte. Der betrunkene Mann, ein Bettler hatte sich auf der Parkbank niederlassen wollen, um dort in aller Ruhe nach etwas Essbarem zu suchen, das einer der Spaziergänger am Tag vergessen hatte. Vom Mörder war weiterhin keine Spur. Es kehrte wieder Ruhe ein. Man hatte den betrunkenen Bettler mit Davis Butterbrot abgespeist und sich danach wieder in Lauerstellung begeben. Lange Zeit herrschte wieder absolute Stille. MacPhee war drauf und dran, die Geldübergabe abzubrechen, als er trippelnde Schritte wahrnahm. Da war sie – die Mörderin von Jane Hemmingway. MacPhee richtete langsam den Schein seiner Taschenlampe auf die zierliche Figur vor ihm. Ein triumphierendes Lächeln lag auf seinen Lippen, während sich die geblendete Gestalt unter dem Gewahrsam von mehreren Polizisten befand. MacPhee hatte wieder einmal Recht gehabt.


13. Kapitel

„Nun Mrs. Higgins, ich befürchte fast, dass Sie sich unwiderruflich in enormen Schwierigkeiten befinden. Alles spricht gegen Sie. Ich glaube, ich verrate Ihnen nicht zu viel, indem ich Sie des Mordes an Jane Hemmingway und der Entführung Louisa Norris beschuldige. Wollen Sie nicht endlich gestehen und zu dem stehen, was Sie verbrochen haben?“
Schweigend starrte Mary Higgins an die Decke des Vernehmungszimmers. „Ich gebe Ihnen eine letzte Chance Mrs. Higgins. Wir wissen, dass Sie die Halbschwester von Jane Hemmingway sind! Sie haben Ihre Schwester, ohne mit der Wimper zu zucken, brutal ermordet. Es bringt nichts, dies alles weiter zu leugnen!“
Mary betrachtete schweigend den Kaffeefleck auf Davis weißem Hemd.
„Mrs. Higgins, Ihr Vater war Funderstow, der Vater von Mrs. Hemmingway. Sie waren eine uneheliche Tochter, ohne Liebe und unter der Fuchtel ihrer alkoholabhängigen Mutter gezwungen, für den Familienunterhalt zu sorgen. Das ist zweifellos ein hartes Schicksal.“
Mary schaute auf. „Sie ist schuld. Jane. Jane hatte alles. Geld, ein tolles Haus, die Bewunderung der Gesellschaft. Und wer war ich? Ein Bastard. Ohne Schulausbildung, ohne Respekt und ohne jegliche soziale Anerkennung. Die gute Jane war so besorgt, stellen Sie sich vor. Besorgt um ihren guten Ruf. Was wäre das für ein Skandal gewesen, die Dorfschneiderin als Halbschwester. Das durfte natürlich niemand herausfinden. Das Schweigegeld, das ich für unser Geheimnis bekam, war lächerlich im Vergleich zu dem, was es ausgelöst hätte, wäre es ans Tageslicht gekommen. Am Tag vor ihrem Tod weigerte sie sich, mir weiterhin 'Geld in den Rachen zu schieben’, wie sie es so schön bezeichnete. Ich solle lernen, auf eigenen Beinen zu stehen und nicht länger alles auf meine verkorkste Kindheit zu schieben. Jane hatte doch keine Ahnung. Sie hatte kein Wrack als Mutter, das sich ständig besoff und sich einen feuchten Kehricht um mich scherte. Und in diesem Moment entschloss ich, sie umzubringen. Es war so leicht. Als Brendt kam, war es, als hätte es das Schicksal gut mit mir gemeint. Jeder verdächtigte ihn. Keiner dachte an mich. Schließlich hielt mich ja jeder für ihre Freundin. Dabei hasste ich sie. Darum habe ich sie ermordet. Ich möchte Sie nun bitten, mich in meine Zelle zurückzubringen. Ich habe nichts weiter zu sagen.“


14. Kapitel

Evan Brendt stand vor den sterblichen Überresten seiner Mutter, die soeben in einem schweren Eichensarg in die Tiefe der Erde hinabgelassen wurden. Obwohl ihm die Tränen in den Augen standen, bemerkte er die zwei Hände, die sich auf seine Schultern legten. Die eine war sanft und weich, sie gehörte Rosalie, die andere war schwielig und schwer, es war die Hand des Mannes, den er eigentlich hassen sollte, den er aber bei bestem Willen nicht verachten konnte – Paul. Seine Mutter hatte schließlich ihre Ruhe gefunden und obwohl sie Teil seiner Vergangenheit war, war sich Evan sicher, dass sie von irgendeiner Wolke herabschaute und stolz auf ihren Sohn war. Mit diesen Gedanken schaute Evan auf den Grabstein seines Vaters, die mächtige Buche mit dem eingeritzten Herz und das Grab seiner Mutter. Wie ruhig es hier war. Vor kurzer Zeit erst, war hier Jane gestorben und dennoch wirkte alles friedlich. Mary Higgins würde ihre gerechte Strafe erhalten.
Eine neue Zeit war angebrochen. Evan ließ seinen Blick schweifen. Viele bekannte Gesichter erkannte er. Da war Aubrey Knight, der seinen Arm um Louisa Norris gelegt hatte. Als dieser seinen Blick bemerkte, nickte er stumm mit dem Kopf. Louisa würde das Beste in Aubrey hervorheben, da war sich Evan sicher. Er kannte diesen Mann nahezu gar nicht, aber Aubrey hatte ihn in seiner ganzen Art überrascht. Er war nicht der Gigolo, für den ihn die Gesellschaft Londons noch immer hielt. Er war ein ehrenwerter Mann, der die Liebe gefunden hatte und dafür sogar auf das Erbe Jane Hemmingways, zugunsten von Evan als Janes Stiefsohn, verzichtet hatte.
Neben dem jungen Paar stand in einem schlichten schwarzen Kleid die Gestalt von Lucy. Evan bemerkte überrascht, dass ihre behandschuhte Hand beschützend und gleichzeitig liebevoll auf Pauls Schulter lag und dieser ihr immer wieder sehnsüchtige Blicke zuwarf. Er kannte Lucy zwar nicht gut, aber er erkannte, dass sie eine anständige und gutmütige Frau war – eine Frau mit einer besonderen Art, wie Paul sie sich an Jane gewünscht hatte.

Schließlich fiel Evans Blick auf die restlichen Trauergäste. Da waren sie alle, seine Schwiegereltern, der gutmütige Mr. Westham und seine neurotische Frau, die trotz der Sonnenstrahlen stocksteif mit ihrem schwarzen Regenschirm dastand, alle Freunde und Verwandten, Mortimer Funderstow, der in seinem schlecht sitzenden Anzug gegen einen Laternenpfahl lehnte und letztendlich… die beiden Detectives MacPhee und Davis. Ihnen zu Füßen saß ein kleiner rundlicher Beagle und kaute genüsslich an einem Knochen. Als MacPhee den Blick Evans bemerkte, zuckte er lächelnd mit den Schultern, zwirbelte seinen Schnurrbart und zog seine Pfeife hervor. Was für ein merkwürdiger Kerl, dachte Evan bei sich. Liebevoll beäugte er die kleine Gestalt, die neben ihm im Kinderwagen friedlich zu schlummern schien. Sein kleiner Sohn. Er hatte seine Großeltern väterlicherseits nie kennengelernt und würde es auch nicht mehr tun. Daran konnte niemand etwas ändern. Und trotzdem wusste Evan, dass die Zeit der Wut und des Schmerzes vorbei war. Evan ließ eine rote Rose in die Ruhestätte seiner Mutter fallen und nahm Abschied von ihr.
Alles würde gut werden. Eine neue Zeit hatte begonnen.

Autorin / Autor: Ann-Katrin Kinzl - Stand: 13. Juli 2010